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ARD-Wahlmann über Umfragen„Zahlen sind manchmal Datennebel“

WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn hält die Sonntagsfrage kurz vor der Wahl für ungeeignet. Denn die Ergebnisse seien nicht aussagekräftig.

Tragen nicht immer zur Erhellung des Publikums bei: Wahlumfragen. Bild: dpa
Stefan Reinecke
Interview von Stefan Reinecke

taz: Herr Schönenborn, die ARD wird eine Woche vor der Wahl keine Umfrage mehr veröffentlichen. Warum?

Jörg Schönenborn: Weil das nicht zur Erhellung des Publikums beiträgt. Es gibt in der letzten Woche stärkere tägliche Stimmungsschwankungen. Ein Drittel der Wähler entscheidet sich in den letzten acht Tagen. Die Sonntagsfrage – also „Wen würden Sie wählen?“ – kann gerade kurz vor der Wahl sehr zufällige Ergebnisse bringen. Das muss nicht, kann aber so sein.

Das ZDF wird drei Tage vor dem 22. September noch mal Zahlen veröffentlichen – weil es paternalistisch sei, den Bürgern Informationen vorzuenthalten.

Wir halten keine Information zurück. Wir machen nur keine Sonntagsfrage mehr, auch intern für uns nicht.

Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für die aktuellsten Zahlen nicht?

Ich glaube, dass Umfragen sechs Wochen vor der Wahl aussagekräftiger sind als drei Tage vor der Wahl. Denn da ist das Fehlerrisiko höher. Was man am Montag misst, kann am Mittwoch und Freitag schon anders sein. Die Spätentscheider treffen ihre Wahl nämlich nicht linear, sondern oft im Zickzack. Montags die Partei, Freitag eine andere. Wenn man sich die Umfragewerte vor den Bundestagswahlen der letzten 12 Jahre anschaut und mit den realen Wahlergebnissen vergleicht, zeigt sich: Es stimmt nicht, dass die Umfragen direkt vor der Wahl dem Wahlergebnis am nächsten kamen.

Ein Beispiel?

Das Forsa-Institut führt schon lange Befragungen bis ganz kurz vor der Wahl durch. 2005 hat Forsa bis zum Freitag vor der Wahl Umfragen gemacht. Das Ergebnis: 42 Prozent für die Union. Am Sonntag stimmten nur 35 Prozent für die Union. Gerade die aktuellsten Zahlen sind manchmal Datennebel, der viele womöglich irritiert.

Bild: dpa
Im Interview: Jörg Schönenborn

wurde am 1964 in Solingen geboren und studierte von 1983 bis 1988 Journalistik und Politikwissenschaft. Nach dem Volontariat arbeitete er als freier Journalist für Hörfunk und Fernsehen. Er war von 1992 bis 1997 Korrespondent in Nordrhein-Westfalen für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“. Seit 2002 ist Schönenborn WDR-Chefredakteur Fernsehen und seit 1999 der Wahlmoderator der ARD.

Es gibt aber das Beispiel Niedersachsenwahl 2013. Da haben viele CDU-Wähler für die FDP votiert, weil die Liberalen bei den Umfragen unter 5 Prozent lagen. So kam die FDP auf wundersame 10 Prozent bei der Wahl. In der letzten Woche zeigten unveröffentlichte Umfragen, dass die FDP schon bei 7 Prozent lag. Wäre es nicht fair gewesen, diese Zahlen zu publizieren und taktische Wähler zu informieren?

Niedersachsen war ein besonderer, seltener, zugespitzter Fall. Aber auch da zweifle ich, ob eine Veröffentlichung sinnvoll gewesen wäre. Wir sehen doch: Gerade in der volatilen Endphase vor der Wahl kann eine Umfrage die Wirklichkeit beeinflussen. Vielleicht hätte die FDP dann also nur 6 oder 5 Prozent bekommen. Und an jedem Tag kann eine neue Umfrage die Stimmung beeinflussen, wie ein Perpetuum mobile.

Also ist die Gefahr der Beeinflussung der Wähler bei späten Umfragen größer?

Ja, und ich möchte als Journalist nicht Gefahr laufen, solche Effekte zu produzieren. Gerade weil die Fehleranfälligkeit der späten Umfragen besonders hoch ist.

Gibt es konkrete Beispiele, dass spät publizierte Zahlen von Forsa und Allensbach den Wahlausgang real verändert haben?

Nein, aber das kann man nicht wissenschaftlich solide messen.

Umfragen verstehen

Wer sich über Umfragen informieren will, tut dies am besten auf wahlrecht.de. Dort finden sich die aktuellen Zahlen der Sonntagsfrage der großen Institute, für den Bund und die Länder.

Besonders aufschlussreich sind die Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen (FGW). Denn dort finden sich zwei Ergebnisse: zum einen die Rohdaten, die sogenannte politische Stimmung - und zum anderen was die Wahlforscher, die langfristige Bindungen an Parteien nach eigenen Rezeptur berücksichtigen, daraus machen.

In Frankreich und Spanien ist es verboten, eine Woche vor der Wahl Umfragen zu veröffentlichen. Ist das sinnvoll?

Nein. Denn diese Verbote können via Internet und bei offenen Grenzen ja leicht umgangen werden. Dann werden die Umfragen eben in Belgien oder der Schweiz veröffentlicht und gelangen von dort nach Frankreich. Es ist unnütz, sogar schädlich, da es Gerüchten oder unseriösen Instituten und Zahlen die Tür öffnet.

Umfragen werden mitunter wie politische Argumente verwendet. Sie präsentieren heute Abend in der ARD den „Deutschlandtrend“. Müssen Sie die Ergebnisse nicht stärker in Anführungszeichen setzen, um die Zahlengläubigkeit zu erschüttern?

Ich versuche das. In der letzten Woche habe ich erwähnt, dass der knappe Vorsprung von Schwarz-Gelb vor SPD, Grünen und Linkspartei auch an Messfehlern liegen kann. Bei der letzten Umfrage vor der Wahl versehen wir die Zahlen der Sonntagsfrage immer mit dem dicken Stempel „Keine Prognose“.

Und das reicht?

Ich hoffe. Es ist mir ein ernsthaftes Anliegen, deutlich zu machen: Überhöht die Sonntagsfrage nicht! Das ist eine relativ unpräzise Messung, deren Ergebnisse im Vergleich zu anderen Umfragen politisch eher wenig aussagekräftig ist. Und: Wir zeigen keine Umfragen in der „Tagesschau“, um die Zahlen nicht zu Nachrichten zu überhöhen. Die Ergebnisse der Sonntagsfrage sind keine präzise Nachricht.

Trotzdem werden die Umfragen oft als wissenschaftlich exakte Fakten missverstanden.

Ich bin da mittlerweile optimistischer. Die Zuschauer nehmen ja wahr, dass verschiedene Institute manchmal sehr verschiedene Zahlen haben.

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8 Kommentare

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  • M
    McChiavelli

    Ein fortschrittliches Wahlsystem wäre es, nicht nur keinerlei Umfragewerte zur Sonntagsfrage zu veröffentlichen. Sondern auch die Wahl selbst nicht anhand von Personen- bzw. Parteienzustimmung zu handhaben. Hierbei spielen nämlich Sympathie, Gewohnheit etc. eine viel zu große Rolle. Besser wäre es, im Sinne eines Wahlomaten, die Wahlentscheidung der Bürger strikt an inhaltlicher Zustimmung zu Themen/Sachgebieten festzumachen. Im Zeitalter von Neuland:Internet ist das technisch überhaupt kein Problem; Uns würde dadurch der Sympathie heischende Wahlkampf erspart bleiben; Wähler wären gezwungen, sich inhaltlich mit Politik auseinanderzusetzen. Und Parteien und Politiker wären weit stärker dazu angehalten, ihre Wahlversprechen auch zu halten, also ihre Parteiprogramme in Koalitionsverhandlungen ernster zu nehmen. Das wäre ein gutes System. Aber obwohl es einfach machbar wäre, wird es sicherlich auf unabsehbare Zeit am Widerstand von (mindestens) CDU/CSU und SPD scheitern. Schade.

  • K
    Kritiker

    Eine kritische und interessante Studie dazu findet man unter Wahl-Radar 2013

     

    http://wahl-radar2013.de/

  • S
    Sonntagserror

    In diesen "Sonntagsfragen", wie auch bei den offiziellen Wahlprognosen werden die kleinen Parteien absichtlich klein gehalten oder überhaupt nicht aufgelistet, damit sie die 5% Hürde nicht schaffen!

    Dieses perfide System funktioniert schon seit Jahrzehnten so!

  • W
    Westberliner

    Aus meiner Sicht sind solche Umfragen nicht notwendig, außer dass sich Institute viel Geld damit verdienen. Ich persönlich wurde schon desöfteren angerufen, habe aber eine Auskunft jedes Mal verweigert.

  • W
    Wahli

    "Sonntagsfrage kurz vor der Wahl für ungeeignet."

    Das trifft wohl auch auf zeitlich frühere Sonntagsfragen zu, nur dass da das 'falsche' Ergebnis nicht nachweisbar ist.

     

    Jetzt interessiert eigentlich mich nur noch die Aussagekraft der Sonntagsfrage kurz NACH der Wahl.

  • Diese angepaßten Systemjournalisten kann ich nicht mehr sehen... .

    Wirklich kritische Fragen stellen die sowieso kaum, was soll also der ganze Unsinn?

    Warum erscheinen die zahlenmäßig sehr starken Nichtwähler nicht in der Balkengrafik neben den Parteien? Dann würde der Balken der Nichtwähler ca. 50% bekommen, die Union ca. 20%, die SPD ca. 15% und so weiter. Das Bild wäre für die Parteien erschreckend, aber realistisch.

    Alle Wahlberechtigten sollten die Bemessungsgrundlage für diese Balkengrafik sein, nicht nur die abgegebenen Stimmen.

    • J
      Jup
      @Heiko:

      Dann würden 30% der Nichtwähler 70 % der Wähler gegenüberstehen,wenn man die Nichtwähler nach politischer präferenz auseinander dröseln würde wären es 10% "Systemverweigere" 10% protest-ncihtwähler und 10% Scheiß egal leute.

    • M
      Marcus
      @Heiko:

      Wenn man Nichtwähler berücksichtigt müsste mann den Grund des Nichtwählens beachten. Nichtwähler sind ja eben keine Partei oder andersweitig homogene Gruppe. Das geht von Leuten denen Politik im allgemeinen schlicht egal ist, über Leute die alle Parteien ablehnen und am liebsten in die Revolution ziehen würden, bis zu jenen die nicht wählen weil sie mit der Momentanen Situation vollauf zufrieden sind. Müsig zu sagen das es nahezu Unmöglich ist diese Gründe genau zu erfassen zumal viel ihren Grund für die Wahlverweigerung nicht angeben werden oder sich dessen nicht einemal bewust sind.