AKW-Panne in Belgien: Der verschleppte Nuklearunfall
Tagelang blieben die Einwohner einer belgischen Stadt über einen Nuklearunfall in ihrer Nähe im Ungewissen. Erst vier Tage nach der Panne wurde der Vorfall als schwerwiegend eingestuft.
BRÜSSEL taz "Ich bin doch nur der Bürgermeister", antwortete Jean-Luc Borremans auf die Frage, warum er die Einwohner seiner 22.000-Seelen-Gemeinde tagelang über den radioaktiven Unfall auf seiner Gemarkung im Unklaren ließ. Am 25. August veröffentlichte die Gemeinde auf ihrer Website eine kurze Notiz, aus dem Institut für Radio-Elemente (IRE) sei radioaktives Jod ausgetreten. Man solle zunächst keine Gartenfrüchte essen. Die nationale nukleare Kontrollbehörde (AFCN) untersuche, ob die Umwelt radioaktiv verseucht worden sei. Doch das dauerte.
Erst vier Tage später schlug die AFCN Alarm. Sie stufte den Zwischenfall als schwerwiegend ein und platzierte ihn immerhin auf Rang drei einer siebenstufigen Skala. Jean-Luc Borremans betont, er habe daraufhin sofort die Bevölkerung informiert, dass in einem Umkreis von 5 Kilometern um das Institut kein Gemüse mehr verzehrt werden dürfe. "Ich habe zwei Stunden gebraucht, um zu reagieren, während andere fünf Tage verplempert haben, bevor sie mit den Tatsachen herausrückten", schimpft der Bürgermeister. Diesmal begnügt er sich nicht mit einer Notiz auf der Website, sondern schickt Lautsprecherwagen durch die kleinen Dörfer der Gemeinde.
Inzwischen kristallisiert sich heraus, dass die werkseigene Messanlage am Luftschacht des IRE bereits seit dem 23. August erhöhte Radioaktivität anzeigte. Ein Sprecher des IRE behauptete hingegen, der Alarm sei erst am frühen Morgen des 25. August ausgelöst worden. "Auf dem Messstreifen zeigte sich seit Samstagmorgen ein allmählicher Anstieg", erklärt Willy de Roovere, Direktor des AFCN. "Sie haben zwei Tage gebraucht, um uns zu informieren. Das ist Ausdruck einer mangelnden Sicherheitskultur, die bei IRE schon lange zu wünschen übrig lässt."
Inzwischen haben die Behörden Entwarnung gegeben. Die Milch aus der Umgebung des Instituts sei unbelastet. Gartenfrüchte sind nur noch im Umkreis von 3 Kilometern bis zum 7. September tabu.
Das IRE stellt Radioisotope für den medizinischen Gebrauch her, unter anderem das durch den Luftschacht entwichene Jod 131. Die "in flüssiger Form gelagerten Abfälle aus der Produktion" sind laut IRE-Sprecher Yves Niels als Quelle der Verschmutzung identifiziert worden. Sie seien Freitag in einen anderen Raum gebracht worden. Danach habe es erste Anzeichen für ein Leck gegeben. Doch zunächst sei eine so niedrige Radioaktivität gemessen worden, dass man Sicherheitsmaßnahmen nicht für nötig erachtet habe.
Jan van de Putte von Greenpeace Belgien warnt davor, den Vorfall zu verharmlosen. Die in die Atmosphäre entlassene Radioaktivität habe ausgereicht, um einen Erwachsenen mit 16 Prozent der zulässigen Jahresdosis zu belasten. "Innenminister Patrick Dewael muss den Fall übernehmen und Druck auf die Direktion von Fleurus ausüben", fordert van de Putte. Doch angesichts der belgischen Dauerkrise ist von dieser Seite kein Machtwort zu erwarten.
Die Anreicherung bei IRE, dessen Radioisotope vor allem in der Diagnostik und bei der Krebsbehandlung eingesetzt werden, bleibt vorerst gestoppt. Produktionsstätten in Kanada und Südafrika hätten nach Angaben von IRE zugesagt, die Lücke zu füllen.
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