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9. November in ChemnitzBegehung einer Baustelle

Der erste 9. November in Chemnitz seit den Hetzjagden liefert ein gemischtes Bild. Um die Deutungshoheit wird in der Stadt weiter gekämpft.

Da hatte Marx noch Gutes im Blick: #Wirsindmehr-Konzert im September 2018 Foto: dpa

Chemnitz taz | Klar, wenn man nach Chemnitz kommt, dann geht man erst mal zum Marx-Kopf. Dem Wahrzeichen, das die Chemnitzer „Nischel“ nennen, geht es gerade so ähnlich wie seiner Stadt, er ist eine Baustelle.

Eigentlich wollte die rechtsradikale Bewegung Pro Chemnitz sich hier am Wahrzeichen der Stadt versammeln. Der Stadt fiel dann kurzfristig ein, dass auf dem Vorplatz des Monuments dringend Bauarbeiten durchgeführt werden müssen. So mussten sich die Rechten am Abend zweihundert Meter links, die Gegendemonstranten zweihundert Meter rechts vom Monument versammeln, getrennt von Zäunen und einem massiven Polizeiaufgebot.

Wer behält die Deutungshoheit über einen Tag, der für sehr verschiedene politische Ereignisse steht, und dementsprechend begangen und instrumentralisiert werden kann? Diese Frage stellt sich immer am 9. November. Besonders stellte sie sich aber in diesem Jahr in Chemnitz, wo im August tausende Neonazis durch die Straßen rannten.

Den Anfang machte am Mittag die jüdische Gemeinde. Sie hatte zum Gedenken an den ehemaligen Standort der Synagoge von Chemnitz eingeladen. Etwa 300 bis 400 Personen waren gekommen, viele ältere ChemnitzerInnen und einige Schulklassen. Sie stehen mitten auf der abgesperrten Straßenkreuzung, vorne sitzen in Decken gehüllt einige Zeitzeugen und Überlebende. In den letzten Jahren seien deutlich weniger Menschen hier gewesen, sagen mehrere Zuschauer. Manche sagen, sie seien wegen der Ereignisse der letzten Monate gekommen.

Kretschmer gegen Antisemitismus und Rassismus

Die alte Synagoge der Stadt hier am Stephanplatz war am 9. November 1938 um 19 Uhr von Nazis angezündet worden. 172 Menschen wurden ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Für die Aufräumarbeiten des nächsten Tages musste die jüdische Gemeinde die Stadt Chemnitz bezahlen, mit 35.000 Reichsmark. Kurze Zeit später musste sie das Grundstück an die Stadt verkaufen, für 500 Reichsmark. Heute ist der Stephanplatz eine unscheinbare Straßenkreuzung mit Mietskasernen.

Zum Gedenken kommt neben der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer von CDU. Der hatte bestritten, dass es im August in Chemnitz Hetzjagden gegeben habe, und dafür viel Kritik erfahren. Bei der Gedenkfeier trifft er aber den Ton: „Nach den Geschehnissen ist es ein Wunder, dass die jüdischen Bürger neues Vertrauen gefasst haben.“ Er spricht sich gegen Antisemitismus und Rassismus aus. Vielleicht spielt aber auch eine Rolle, dass Auspfeifen oder Buhrufe bei einer Gedenkfeier unangebracht gewesen wären.

Ruth Röcher ist die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, die auch an einem Gedenktag wie heute herzlich und humorvoll bleibt. Sie freue sich über das Interesse so vieler junger Männer an ihrer Person, auch wenn das nur ein mal im Jahr so sei, sagt sie nach der Gedenkfeier den Journalisten. Dann erzählt sie, dass vorhin AfD-Vertreter auf sie zugekommen seien, um ihr ein Geschenk zu überreichen. Das habe sie abgelehnt. „Ich verstehe nicht, dass es einige Idioten gibt unter uns, die bei ihnen mitmachen.“

Helles vs. dunkles Chemnitz

Heute gibt es wieder ein lebendiges jüdisches Leben in Chemnitz. Bei der Wende lebten noch zwölf Jüdinnen und Juden in Chemnitz, die jüngste war 60 Jahre alt. Nun sind es mindestens 600, die allermeisten kamen aus der zusammengebrochenen Sowjetunion. Später zieht eine Gedenkprozession mit Kerzen von der neuen Synagoge in die Innenstadt, viele junge ChemnitzerInnen mit Kindern haben sich angeschlossen, die Kinder freuen sich über einen zusätzlichen Laternenlauf. Hier zeigt sich wie am Mittag bei der Gedenkfeier ein engagiertes, helles Chemnitz. Doch in den Abendstunden wird es nicht nur dunkel, sondern auch wieder düster.

Am Nachmittag hatten in der Innenstadt noch diverse Veranstaltungen stattgefunden: Die Jusos luden zum Putzen von Stolpersteinen ein, auf einer Bühne spielt das Chemnitzer Theater, ein paar hundert Menschen haben sich versammelt. Auch André Löscher ist mit seinen Kindern zur Kundgebung gekommen. Man sieht ihm an, dass er über die niedrigen Teilnehmerzahlen enttäuscht ist. Löscher arbeitet bei der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt. Er erzählt, dass die Gewalt gegen politisch Andersdenkende, gegen Migranten und Nicht-Weiße in der Stadt stark zugenommen hat seit August: Im ganzen Jahr 2017 habe es insgesamt 20 Fälle gegeben, jetzt 47 in etwa zwei Monaten.

Am Abend beginnt dann in Rufweite die Veranstaltung von Pro Chemnitz. Auffällig ist, wie freimütig offensichtliche Neonazis mit Skinhead-Tattoos neben unauffälligen Chemnitzer Bürgern mit Rücksäcken und farbigen Outdoorjacken stehen. Wenn man aber letztere fragt, will keiner einen Nazi gesehen haben. Und die Presse lügt ja sowieso.

Das „tausendjährige Reich“ beschworen

Die Strategie des bürgerlichen Anstrichs jedenfalls funktioniert: Die Polizei spricht von 1.200 Demonstranten. Viele sind aus kleineren sächsischen Städten angereist, erkennbar an ihren Transparenten. Die Gegendemonstration wird zu diesem Zeitpunkt kleiner, viele Familien und ältere Chemnitzer gehen nach Hause, es bleibt ein wackerer Kern von wenigen hundert Menschen, viele im Antifa-Dresscode, manche von ihnen sind extra aus Leipzig angereist.

Ein Redner beschwert sich über Beschränkungen beim Waffenbesitz und klagt, der Kaiser hätte sich damals kein wehrloses Volk gewünscht.

Auffällig ist, wie oft sich die Redebeiträge bei Pro Chemnitz um den 9. November drehen. Doch während die Reichspogromnacht ausgeklammert wird, sehen sich mehrere Redner kurz vor einer Revolution und in der Tradition von 1989: „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, rufen die Rechtsradikalen, „Merkel muss weg“ und „Wir sind das Volk“. Sie beschwören einen Widerstandsmythos: „Überall in Deutschland sind die Menschen wütend auf die Politiker. Aber nur wir hier kriegen unseren Arsch auf die Straße“, ruft einer. Doch während damals eine Mauer fallen sollte, schreien sie heute nach der Festung Europa und fordern, die deutschen Grenzen dicht zu machen.

Hier wird das tausendjährige Reich beschworen. Dort beschwert sich ein Redner über Beschränkungen beim Waffenbesitz und klagt, der Kaiser hätte sich damals kein „wehrloses Volk“ gewünscht. Ursprünglich wollte Pro Chemnitz zur Mahnwache für Daniel H. laufen, dessen gewaltsamer Tod der Anlass für die rechten Hetzjagden war. Die Familie des Verstorbenen hatte sich jedoch gewünscht, dass das nicht passiert.

Während die Demonstration durch die Straßen läuft, wird der Reporter der taz mehrfach beschimpft und bedroht. Die Polizei stoppt den Aufzug an einer Straßenkreuzung, die Rechtsradikalen wollen weiterlaufen. Nach kleineren verbalen Auseinandersetzungen löst Pro Chemnitz die Veranstaltung auf. Die Leipziger Antifaschisten und auch die zugereisten Journalisten verlassen die Stadt am späten Abend wieder. Die Chemnitzer und der Karl-Marx-Kopf, sie bleiben mit ihrer Baustelle allein.

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