86 Tote bei Terroranschlag in Türkei: „Anschlag auf die Demokratie“
Die Opferzahl des Terrorakts in Ankara steigt auf 86. Opposition und Regierung sind entsetzt. Die PKK lässt vorerst die Waffen ruhen.
Aufgerufen zu der Friedensdemonstration hatten mehrere linke Gewerkschaften und die kurdisch-linke Partei HDP. Mit dem „barbarischen Attentat“ in Ankara, wie der Ko-Chef der HDP Selahattin Demirtaş es anschließend bezeichnete, sind jetzt zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit Anhänger der HDP Opfer eines schweren Terroranschlages geworden.
Die ersten beiden, ein Bombenanschlag während einer Wahlkampfkundgebung in Diyarbakir Anfang Juni und der Terroranschlag in Surunc am 20. Juli, wurden jeweils von Selbstmordattentätern ausgeführt, die dem „Islamischen Staat“ nahe standen. Auch jetzt könnten die Attentäter wieder aus diesen Reihen stammen, womöglich als Reaktion auf einen Vormarsch syrischer Kurden gegen die IS-Hauptstadt Rakka in Syrien.
Das Attentat heute Morgen fand aber auch drei Wochen vor neuerlichen Parlamentswahlen in der Türkei und blutigen Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Guerilla PKK statt. Diese Kämpfe begannen nach einem knapp zweijährigen Waffenstillstand wenige Tage nach dem Attentat in Suruç, als Staatspräsident Erdoğan den Mord an zwei Polizisten zum Anlass nahm, um die Luftwaffen Stellungen der PKK im benachbarten Nordirak bombardieren zu lassen. Seitdem flieg die Luftwaffe regelmäßig Angriffe gegen die PKK, die wiederum fast täglich mit Anschlägen auf Soldaten und Polizisten antwortet.
PKK verkündet Ende von Aktionen vor der Wahl
Genau gegen diese Eskalation der Gewalt sollte sich die Friedensdemonstration am heutigen Samstag richten. Seit Wochen hatte die HDP-Führung, und vor allem Selahattin Demirtaş, immer wieder dazu aufgerufen, die Waffen ruhen zu lassen und zu Friedensverhandlungen zurückzukehren. Da absehbar war, dass die Angriffe der PKK auf Soldaten und Polizisten vor allem der HDP bei den bevorstehenden Wahlen schaden würden, hatte Demirtaş wiederholt auch direkt die PKK-Führung aufgefordert, zur Not einen einseitigen Waffenstillstand zu erklären.
Genau dazu war die PKK jetzt bereit. Wenige Stunden nach dem Doppelanschlag in Ankara wurde eine Erklärung der PKK verbreitet, in der sie ihre Anhänger aufruft, bis zu den Wahlen am 1. November keine Aktionen gegen Soldaten und Polizisten mehr zu unternehmen, damit die Durchführung von freien und fairen Wahlen nicht gefährdet würde.
Die Erklärung war wahrscheinlich schon vor den Anschlägen versendet worden, es bleibt nun abzuwarten, ob sie nach den Terroranschlägen noch Bestand hat.
Erdoğan: „Anschlag auf die Demokratie“
Denn noch nie in der türkischen Geschichte hat es einen Anschlag mit einer derart hohen Zahl von Toten gegeben. Zusätzlich zu den 86 Opfern, die der türkische Gesundheitsminister gegen 14:30 Uhr bestätigte, liegen immer noch dutzende Schwerverletzte in den Krankenhäusern, von denen etliche in Lebensgefahr schweben. Nicht nur die HDP ist geschockt und verzweifelt, auch die anderen Oppositionsparteien und selbst die Regierung geben sich entsetzt angesichts dieses bislang unvorstellbaren Terrorakts. Sowohl Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu wie auch Staatspräsident Erdoğan haben alle Termine abgesagt und sich zu einer Krisensitzung eingefunden. Erdoğan sprach von einem Anschlag auf die Demokratie und die Einheit der Türkei.
Viele der Demonstranten und selbst die HDP-Führung geben allerdings der Regierung eine Mitschuld an dem Terroranschlag. „Wie kann es sein, dass ein Polizeistaat wie die Türkei, deren Geheimdienste überall sind, von einem solchen Anschlag nichts wissen konnten“, fragte Demirtaş. Auch sei der Bahnhof auf dem die Demonstranten anreisten nicht von der Polizei gesichert gewesen. Die tauchten erst anschließend auf und wurden von vielen Demonstranten wütend empfangen, worauf es zu einem Tränengaseinsatz und der Festnahme von 30 Demonstranten kam. Demirtaş ist so wütend, dass er vor laufenden Kameras sagte, Staatspräsident Erdoğan könne sich einen Beileidsanruf bei ihm sparen, er würde nicht ans Telefon gehen.
Ob angesichts des Terrors und dieser Spannungen die Parlamentswahlen wie vorgesehen am 1. November noch stattfinden können, wird in den kommenden Tagen zu entscheiden sein.
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