80 Jahre nach der Ausrottung: Nordsee soll Austernriffe kriegen
Die ausgestorbene Europäische Auster soll in die Nordsee zurückkehren. Die Wiederansiedlung soll für mehr Artenvielfalt sorgen und den Küstenschutz verbessern.
Die Europäische Auster (siehe Kasten) war bis 1930 in der deutschen Nordsee verbreitet. Durch Übernutzung sind die Austernbänke, die mit ihrer größten Ausdehnung von 21.000 Quadratkilometern größer waren als Schleswig-Holstein, gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwunden. „Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine Tierart in wenigen Jahren durch Überfischung ausgerottet werden konnte“, sagt Jessel. Eiswinter und Stürme sowie Krankheiten und Parasiten hätten eine Erholung der Bestände verhindert. Zudem wächst die Europäische Auster nur sehr langsam, deshalb sind ihre Reproduktionszyklen dementsprechend sensibel.
Von dieser Austernart existieren nur noch wenige Restpopulationen in England, Schottland, Irland und Frankreich. Kürzlich wurde sogar eine kleine Muschelbank vor der niederländischen Küste entdeckt, die noch genauer erforscht wird. In Nordfrankreich wird die Europäische Auster auch in kleinen Mengen in Aquakultur gezüchtet. Aus diesen isolierten Beständen sollen die Jungaustern für die Wiederansiedlung in der Nordsee gewonnen werden, sagte Projektleiterin Bernadette Pogoda.
Versuch im Windpark
Infrage dafür kommen in erster Linie drei Natura-2000-Gebiete in der deutschen Wirtschaftszone in der Nordsee: Borkum Riffgrund vor den ostfriesischen Inseln, das Sylter Außenriff westlich von Sylt und die flache Doggerbank am nordwestlichsten Zipfel der deutschen 200-Seemeilen-Zone mitten in der Nordsee, erläuterte Karen Wiltshire, Vize-Direktorin des AWI. Vor Borkum sollen die Austern versuchsweise auch an zwei Offshore-Windparks angesiedelt werden, sagt Pogoda. In den Windparks und in den Natura-Gebieten gibt es keine Fischerei, denn das ist eine der Voraussetzungen, damit die Jungaustern die Chance zu überleben haben.
Die Europäische Auster (Ostrea edulis) war jahrhundertelang in der Nordsee heimisch.
Urkundlich nachgewiesen wurde sie erstmals 1241. Ende des 19. Jahrhunderts brach der Bestand wegen Überfischung zusammen. Seit etwa 1930 gilt sie als ausgestorben.
Kleine isolierte Vorkommen gibt es noch in der Bretagne, in Irland, England und Schottland.
Die Pazifische Auster (Crassostrea gigas) wurde als kulinarischer Ersatz für die Europäische Auster importiert und vermehrte sich im Wattenmeer rasch. Sie ist ausgesprochen robust, krankheitsresistent und wächst überdurchschnittlich schnell. Für den Artenschutz taugt sie nicht, da sie keine Riffe bildet, sondern flache Teppiche.
Alle in Norddeutschland servierten Austern sind Pazifische. Ihr Weltmarktanteil liegt bei über 90 Prozent.
Aus Naturschutzsicht gilt sie in der Nordsee als „invasive Art“, also als Eindringling, der das ökologische Gleichgewicht stört.
Das Sylter Außenriff, wo die Umweltschutzorganisation Greenpeace 2008 tonnenschwere Findlinge versenkte, um ein künstliches Riff aufzuschütten, kommt ebenfalls für eine Ansiedlung infrage. Im Mai dokumentierte Greenpeace mit Unterwasserfotos, dass sich dort neue Lebensgemeinschaften aus Seesternen, Muscheln und Fischen entwickelt haben. Ob genau diese Felsenlandschaft auch für die Austern geeignet sei, müsse aber noch geprüft werden, sagt Jessel.
Filter fürs Meer
Ziel des 854.000 Euro teuren und auf drei Jahre angelegten Forschungsvorhabens ist es, ab 2019 ein gezieltes Wiederansiedlungsprojekt mit den geeignetsten Jungaustern an den geeignetsten Plätzen zu starten. Daraus soll eine „gesunde, überlebensfähige Population“ erwachsen. Weil die Europäische Auster so langsam wächst, bildet sie eben jene Riffstrukturen, die anderen Lebewesen Nahrung und Schutz bietet. Zudem filtert sie bis zu 240 Liter Meerwasser pro Tag und kann deshalb wirksam vor giftigen Algenblüten schützen. Und als Wellenbrecher sind Austernriffe außerdem ein natürlicher Küstenschutz.
All das mache die Schlüsselrolle der Europäischen Auster im ökologischen Kontext der Nordsee aus, sagt Jessel: „Und deshalb wollen wir sie wieder ansiedeln.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“