piwik no script img

8./ 9. Mai 1945Pervertiertes Gedenken

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Über den Tag der Befreiung herrschte lange Konsens. Jetzt wird der Zweite Weltkrieg zur Begründung für eine neue Menschenschlächterei herangezogen.

Missbrauchter Gedenktag – Demonstrierende Russen am Sonntag in Beirut Foto: Marwan Naamani/dpa

D er 8. oder 9. Mai war nie ein einfacher Gedenktag. Für die Hinterbliebenen in den Siegerstaaten blieb es lange ein Datum der Trauer. Erst Jahrzehnte später konnten sich die Menschen auch darüber freuen, dass das Massenschlachten in Europa an diesem Tag ein Ende fand. Die Deutschen, denen dieses Datum lange als eines der Niederlage galt, erhielten erst in jüngster Zeit die Gelegenheit zur Teilnahme. Die damaligen Alliierten öffneten sich für ihre Feinde von einst, nachdem diese zu begreifen begannen, dass auch sie befreit worden sind.

Es hat in all diesen Jahrzehnten nach dem 8. Mai 1945 nicht an Versuchen gefehlt, dieses Datum für die jeweils eigene aktuelle Politik zu instrumentalisieren. Aber immer blieb es bei der Übereinstimmung, dass es sich um einen historischen Tag handelt; immer war damit der Konsens des „Nie wieder!“ verbunden.

Dieses Miteinander ist zerstört, niedergewalzt durch den Krieg Russlands in der Ukraine. Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist in Moskau zur bloßen Folie verkommen, mit der die Machthaber ihre expansiven Gelüste ummanteln und Tausende Tote mit dem Kampf gegen einen angeblichen Faschismus begründen. Es ist eine Pervertierung: Der übelste Massenmord der Menschheitsgeschichte wird zur Begründung für eine neue Menschenschlächterei herangezogen.

So werden zivilisatorische Grenzen verwischt. Verwischt wird damit aber auch, dass der deutsche Krieg und der Holocaust singuläre Ereignisse bleiben, nicht vergleichbar mit dem Krieg in der Ukraine, auch wenn da durchaus Parallelen der Brutalität und der imperialistischen Bestrebungen gezogen werden können. Aber selbst ein Wladimir Putin will nicht alle Ukrainer versklaven und umbringen. Diese Art des eliminatorischen Rassismus bleibt den Deutschen exklusiv.

Wenn nicht nur die Ukrainer diese Unterscheidung in diesen Tagen vergessen, dann trägt dafür Russland die Verantwortung. Es hat aus der Geschichte perverse Propaganda gemacht.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Die Deutschen, denen dieses Datum lange als eines der Niederlage galt, erhielten erst in jüngster Zeit die Gelegenheit zur Teilnahme.

    die Deutschen? bitte bedenken Sie, das der 8. Mai in den früheren deutschen Staaten sehr unterschiedlich begangen wurde!

    • @MrSteadman:

      Es ist auch nicht weiter verwunderlich, daß unterschiedliche Länder unterschiedliche Narrative haben.

      Schließlich haben sie auch jeweils eigene Kollektiverfahrungen in der Geschichte gemacht.

      Braucht man überhaupt ein "universelles", vereinheitlichtes internationales Narrativ?



      Vielleicht sollten die unterschiedlichen Perspektiven auf das Kriegsende 1945 nebeneinander existieren dürfen.

      Zur deutschen Perspektive gehört nun einmal auch der Aspekt der Niederlage, der Beendigung der staatlichen Souveränität, der Abtrennung der Ostgebiete samt Ethnischer Säuberung, und der Aufteilung des verbliebenen Staatsgebiets in 4 Besatzungszonen dazu.



      (Welches europäische Land hatte - mit Ausnahme von Polen vielleicht - je eine vergleichbare Erfahrung gemacht?)

      Die Versuche der heutigen Bundesrepublik, das Kriegsende doch noch in einen "verschwurbelten Sieg" umzudeuten in Ehren - aber sie sind vor der historischen Wahrheit zum Scheitern verurteilt.

  • Der 8/.9. Mai war und ist nicht nur in Deutschland ein ambivalent beurteilter Gedenktag, sondern bspw. auch im Baltikum www.dw.com/de/abgr...litauen/a-61687140



    www.deutschlandfun...der-seele-102.html

    Dort hat man den Hitler-Stalin-Pakt, die Aufteilung Osteuropas durch zwei Diktatoren und den Verlust der Unabhängigkeit nicht vergessen. Am 9. Mai 1945 ging es nahtlos über von einer Diktatur in die nächste. Diese Länder, wie auch Finnland oder Polen, wissen aus eigener Erfahrung, was russischer Imperialismus ist und was er für die betroffenen Länder heißt.

  • Daß die deutschen Verbrechen (Holocaust, Zweiter Weltkrieg usw.) singulär und den Deutschen exklusiv seien, kann man sicherlich darlegen und herleiten.

    Aber viel spannender ist die Frage, warum diese Exzeptionalität den Deutschen eigentlich so wahnsinnig wichtig ist?

    Denn wenn es ihnen nicht so wichtig wäre, würde die Aufregung über Rußlands Mißbrauch des heiligen Feiertags ja nicht so groß sein.



    Es scheint das deutsche Selbstverständnis und die deutsche Identität fundamental zu berühren, wenn ihre Einzigartigkeit relativiert wird und Josef Stalin nicht als Befreier gehuldigt wird.

  • "Aber immer blieb es bei der Übereinstimmung, dass es sich um einen historischen Tag handelt; immer war damit der Konsens des „Nie wieder!“ verbunden."

    Nein. Die Maiparaden in Moskau und anderen russischen Städten werden schon seit Jahren (!) mit Sprüchen wie "Auf nach Berlin!" und "Wir können das noch einmal" begleitet.

    • @Barbara Falk:

      Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt:



      der 8.Mai dient in den "Nationalreligionen" der unterschiedlichen Länder auch unterschiedlichen Zwecken.

      Bei uns ist Geschichtspolitik im Wesentlichen Innenpolitik.

      Aber in anderen Ländern wird der 8. Mai noch - ganz klassisch - als Siegesfeier ihrer Nation über eine anderebegangen.

      Das führt hierzulande regelmäßig zu Irritationen, sofern man nicht, wie in der jüngeren Vergangenheit häufig geschehen, angestrengt wegschaut und das Offensichtliche ignoriert.

  • Ich würde sagen, jede/r trägt seine eigene Verantwortung dafür, wie /sie/er das "nie wieder" politisch instrumentalisiert. Die inflationäre Verwendung des Begriffes Nazi macht nicht die Bezichtigten böser, sondern trägt nach wie vor zur Banalisierung der Nazi-Verbrechen bei.



    Es werden auch Hitlervergleiche gezogen, nicht weil die Verbrechen denen mit der Intention Hitlers gleich sind, sondern weil man damit die besondere Brutalität einer Diktatur oder Kriegsführung unterstreichen will, wie bei Assad,Hussein, Milosowitch, usw. Dabei handelt es sich um das folgerichtige Vorgehen einer jeden Diktatur, die den Machterhalt mit allen Mitteln durchsetzt. Auch von Demokratien wurden in den letzten Jahrzehnten ungeheuerliche Verbrechen in Kriegen begangen.



    Es wäre an der Zeit den Krieg als Mittel der Politik wirksam zu ächten und ihn als Verbrechen an sich zu werten.



    Es gab zu viele Vorlagen für "legitime" Kriege, die heute für eine Senkung der Hemmschwelle sorgen. Es wird höchste Zeit diese Entwicklung wieder umzukehren.

  • Nach meiner Beobachtung ändert sich im kollektiven generationsübergreifenden Gedenken tatsächlich schon etwas. Während die alten 68er fragten 'Was hat Papa eigentlich im Krieg gemacht?', stellen die ersten Millennials die gleiche Frage in einem anderen Wortgewand: 'Hatte der Ur-Opa nicht auch in der Ukraine gegen die Russen gekämpft?'

  • Dem Volk irgendeinen Quatsch einzureden funktioniert fast überall.



    Dort wo die Bildung am höchsten ist, eher weniger.