775 Jahre Berlin: Neuberliner machen Geschichte
Nach 1937 und den beiden Feiern 1987 verzichtet Berlin ganz auf Inszenierung und feiert die Geschichte der Stadt als die Leistung ihrer Zuwanderer. Chapeau!
Den Freunden des gepflegten Touri-Bashings wird das nicht gefallen: Auch die Admiralbrücke hat es auf den begehbaren Stadtplan zur 775-Jahr-Feier am Schlossplatz geschafft. Wer auf dem fünfzig mal fünfzig großen Plan im Maßstab 1:775 Richtung Kreuzberg schreitet, liest auf einer Infotafel: „Internationale Touristen und Berliner treffen sich hier, um zu musizieren, zu feiern oder Theater-Performances zu erleben.“
Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte zu schreiben, hat sich die landeseigene Kulturprojekte GmbH zum neuerlichen Stadtjubiläum vorgenommen – dazu gehören auch die Touristen. Viele von denen, die in den wilden Achtzigern zu Demos nach Kreuzberg kamen, sind Berliner geworden. Und auch einige der spanischen Touristen von der Admiralbrücke werden hängen bleiben. So wie vor ihnen Siedler aus Flandern, Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Böhmen, Gastarbeiter aus der Türkei und Künstler aus Polen. Sie alle sind – so der Titel der Ausstellung – die „Stadt der Vielfalt“.
Wie gut sich die Geschichte Berlins als die Geschichte seiner Zuwanderung auf Orte im Stadtplan eintragen lässt, zeigt der Ostbahnhof. Ende des 19. Jahrhunderts kam hier die „industrielle Reservearmee“ aus Schlesien an – und sorgte bald für den Kalauer, dass der wahre Berliner aus Breslau komme. In den 1920ern kamen Juden aus Osteuropa und fanden im Scheunenviertel – vorerst – Schutz. Nach 1945 war der ehemalige Schlesische Bahnhof Ankunftsort für Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten. In den achtzigern folgten polnische Staatsbürger, die vom Regime verfolgt wurden oder sich ein besseres Leben erhofften. So steht der Ostbahnhof emblematisch für 150 Jahre jüngere Zuwanderungsgeschichte in einer Stadt, die sich nie selbst genug war – oder genug sein konnte. „Stadt der Vielfalt“ am Schlossplatz ist ein bemerkenswerters Ausstellungsprojekt – und ein erfrischend lebendiges Statement des Senats an einem Ort, der bald wieder, zumindest baulich, die Aura preußischer Nationalgeschichte verströmen soll.
Ganz tief gegraben
Das Kontrastprogramm bildete am Wochenende der historische Jahrmarkt im Nikolaiviertel, wo bunt nicht Vielfalt bedeutet, sondern historisches Kostüm. Das passt gut zur zweiten Ausstellung, die sich Berlin zur erst dritten Feier seiner Geschichte nach 1937 und 1987 gönnt. „Spuren des Mittelalters“ heißt sie und will entlang des Mühlendamms mit Vorurteilen aufräumen.
Zu denen gehört das historische Datum: Die älteste Urkunde aus dem Jahre 1237 erwähnt die Gründung von Cölln, jenen Teil der Doppelstadt Berlin-Cölln, zu der auch die Petrikirche gehörte, deren Fundamente freigelegt sind. Doch Berlin ist um die 50 Jahre älter. Das belegen dendrochronologische Untersuchungen von Bauhölzern. Demnach standen die ersten Häuser in Berlin und Cölln bereits um 1180.
Dennoch ist Berlin – im Vergleich mit römischen Gründungen wie Köln oder Mainz – eine verglichsweise junge Stadt, entstanden in der Zeit der Ostsiedlung zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert. Auch die Gründungen anderer Städte östlich von Elbe und Oder wären ohne Zuwanderer und Neusiedler nicht möglich gewesen.
„Dass das Datum 1237 als Gründung Berlins gefeiert wird, geht auf die Nazis zurück“, erklärt Krijn Thijs, Kurator der dritten Ausstellung mit dem Titel „Party, Pomp und Propaganda“. Zwischen Olympia 1936 und dem Mussolini-Besuch 1937, so Thijs, wollte sich der damalige Stadtpräsident Julius Lippert unter seinen Nazi-Parteigenossen einen Namen machen und organisierte die 700-Jahr-Feier der Stadt. „Seitdem ist das Datum im Raum“, erklärt der Amsterdamer Kurator während einer Führung durch die Ausstellung am Sonntag. Thijs hat über die Berlin-Jubiläen promoviert, zu denen auch die beiden 750-Jahrfeiern im 1987 geteilten Berlin gehören.
In der Ausstellung ist zu sehen, wie sich Nazis, die SED und Westberlin ideologisch verorteten. 775 Jahre Berlin verzichtet nun erstmals auf eine Inszenierung. Chapeau!
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