60. Geburtstag der DDR: Happy Endzeitstimmung
Im Palast der Republik spielten am 7. Oktober 1989 Tanzkapellen zum letzten DDR-Festakt. Der Autor war mit Band dabei: Warum ich das Bild vom einsamen Honecker nie vergessen werde.
Viele Menschen verbinden mit dem Ende der DDR ein bestimmtes Bild, oft das von der Maueröffnung. Bei mir war es der Anblick von Erich Honecker am Abend des 7. Oktober 1989 im Palast der Republik. An jenem Tag ging dort der feierliche Festakt zum 40. Jahrestag der DDR über die Bühne.
Ich war mit meiner Swingband Monate zuvor für die Feier engagiert worden. Nicht für die Gala mit dem Politbüro und den Staatsgästen aus aller Welt im Großen Saal, sondern für einen Auftritt im "Linden-Restaurant" des Palastes.
Im Vorfeld wurde ich von vielen Freunden, die genauso kritisch über die DDR dachten wie ich, bedrängt, das Ganze sausen zu lassen. Auf meiner Geburtstagsfeier waren sie regelrecht über mich hergefallen: Wie kannst du unter diesen Bedingungen nur da spielen?! Ich redete mich auf meinen Vertrag heraus, insgeheim hatte ich jedoch beschlossen, dort eine Rede zu halten, wollte das aber natürlich nicht verkünden.
(44) ist Bandleader des Swing Dance Orchestra und lebt in Berlin. Nach der Wende trat er in die PDS ein.
Am frühen Nachmittag des 7. Oktober bauten wir also im Palast unsere Technik auf. Da noch Zeit war bis zum Auftritt, ging ich mit meiner damaligen Sängerin zum Alexanderplatz, weil wir von Freunden aus der "Kirche von unten" gehört hatten, das dort etwas passieren solle. Zunächst passierte gar nichts, außer dass ein Sänger auf einer Lastwagenbühne die Volksfestbesucher mit Liedern wie "Berliner Luft" zu unterhalten versuchte.
Plötzlich tauchten zwei Männer auf, die lautstark zu diskutieren begannen und sofort bildete sich ein kleiner Pulk. Aus dem entwickelte sich in wenigen Minuten ein Auflauf von gut 100 Leuten. Erste Rufe "Gorbi, Gorbi" erschallten, woraufhin die Stasi einzelne Leute herausholte, was wiederum mit "Stasi raus!"-Rufen quittiert wurde. Der Sänger auf der Bühne sang derweil fröhlich weiter. Bizarr! Der Pulk wurde immer größer, und auf einmal rief jemand "zum Palast!", woraufhin etwa hundert Demonstranten losmarschierten. So ähnlich muss es 1953 gewesen sein, jedenfalls dachte ich spontan: "Der 17. Juni ist da."
Weil die Polizei die Brücke abgesperrt hatte, die zum Republikpalast führte, schlich ich mich mit unserer Sängerin quasi von hinten an das Gebäude. Wir gingen durch die Reihen der Stasileute und Polizisten, die mit Militärlastwagen die Brücke abgeriegelt hatten. Plötzlich sehe ich zwei Herren, elegant im Smoking gekleidet, ankommen und drei Meter neben mir stehen bleiben. Einer von beiden war der MfS-Chef Erich Mielke.
Er brüllt wie ein Wahnsinniger: "Was ist das hier für eine Schweinerei? Wer ist hier der ranghöchste Offizier?" Daraufhin kommt so ein Typ in Plastejacke angerannt, knallt die Hacken zusammen und salutiert "Hier, Genosse Minister". Im gleichen Moment höre ich eine Stimme aus einem Polizeifunkgerät quaken: "SPW (Panzerwagen/d.A.) auffahren an der Spandauer Brücke." Da wurde mir mulmig.
Im Palast herrschte ebenfalls eine bizarre Atmosphäre. Die ganzen Ehrengäste des Staatsempfangs schauten durch die Fenster im Foyer fassungslos nach draußen, wo gegenüber am Spreeufer Demonstranten standen und etwas riefen. Was genau, konnte man nicht hören, weil der Palast schallisoliert war. Man sah aber, dass Polizisten einzelne Demonstranten aus der Menge holten. Neben mir standen Luis Corvalan, der chilenische KP-Chef, und der Sänger Wolfgang Lippert.
Fassungslos fragte er: "Was soll denn jetzt werden?" Es herrschte eine angespannte Stimmung. Überall im Foyer standen Grüppchen und diskutierten. Jeder spürte, dass etwas in der Luft lag. Die einen hatten Angst vor einer chinesischen Lösung, die anderen vor der Konterrevolution.
Während für Honecker, Gorbatschow und die anderen Warschauer-Pakt-Führer ein Unterhaltungsprogramm im Großen Saal ablief, spielten wir im "Linden-Restaurant" vor verdienten Arbeitern und Funktionären. Bevor wir anfingen, sagte ich zu den Anwesenden: "Meine Damen und Herren, Sie haben alle aus den Fenstern gesehen, und ich denke, dem Allerletzten müsste jetzt klar sein, dass dies heute keine Anlass zum Feiern ist, sondern zu tiefer Nachdenklichkeit. Wenn wir nicht spätestens morgen früh mit radikalen Reformen im Sinne von Gorbatschow beginnen, werden wir alle dieses Land verlieren."
Daraufhin applaudierte die eine Hälfte des Publikums, während die andere den Saal verließ. Wir spielten also vor halb leerem Saal unsere amerikanischen Swingnummern wie "Night and Day", "Blue sky" und "Bei mir biste scheen".
Wie ich hinterher erfuhr, klingelten am nächsten Tag die Telefone heiß: Wer der antisozialistische Provokateur gewesen sei? Der Band müsse sofort die Spielerlaubnis entzogen werden. Dazu kam es allerdings nicht mehr, da die Funktionäre dann doch andere Probleme hatten. Vielleicht hat mich auch der Name Hermlin etwas geschützt, da mein Vater ein bekannter Schriftsteller war. Andererseits hatte ich viele Freunde ohne berühmten Namen, die ebenfalls den Mund aufmachten und denen auch nichts passiert ist.
Zwei Stunden dauerte unser Auftritt. Danach, es war gegen 22 Uhr, schlenderte ich durchs Foyer in Richtung Großer Saal, an dessen Tür zwei Sicherheitsbeamte aufpassten. Ich wurde erstaunlicherweise nicht aufgehalten, als ich den festlich geschmückten Saal betrat. Das Essen war offenbar vorbei und auch das Unterhaltungsprogramm mit verschiedenen Künstlern, darunter Startrompeter Ludwig Güttler. Gorbatschow soll zu dem Zeitpunkt bereits das Gebäude über einen unterirdischen Gang verlassen haben.
Im Saal tanzten viele Leute zur Musik von irgendeiner Schlagerkapelle. In der Mitte des Saales stand ein großer runder Tisch für vielleicht zwanzig Leute, darum etliche kleinere, an denen vereinzelt Ballgäste saßen. Am großen Tisch saß nur ein einziger Mann: Erich Honecker. Er starrte in Richtung Bühne, völlig abwesend, verlassen von allen. Es hatte etwas geradezu Symbolisches.
Als ich ihn so sah, überkam mich ein gewisses Mitleid für den Menschen, der zwölf Jahre unter den Nazis im Zuchthaus saß und dem nun sein gesamtes Lebenswerk abhandengekommen ist. Anderseits war mir klar, dass sich mit ihm an der Spitze niemals etwas in der DDR ändern würde, und er für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war. Er musste einfach gehen.
Schon damals, aber noch öfter später dachte ich, dass sich all die Leute, die lange an seinem Rockschoß hingen, nun einfach abwandten und ihren Anteil an "seiner" Politik vergaßen. Einsam saß Honecker an seinem Platz. Es wäre das Foto des Jahrzehnts gewesen, wenn ich eine Kamera dabeigehabt hätte. Andererseits bleibt mir das Bild so viel stärker in Erinnerung, weil es in meinem Gedächtnis fest gespeichert ist.
Danach bin ich mit dem Auto durch eine gespenstisch wirkende Stadt, in der lauter Uniformierte durch die Straßen patrouillierten, nach Prenzlauer Berg gefahren, wo sich Freunde von mir an einer Sitzblockade vor der Gethsemanekirche beteiligt hatten. Als die Jagd der Polizei auf die Demonstranten begann, bin ich losgerannt und habe nachts zu Hause mit meinem Vater über die Erlebnisse des Tages und seine Folgen diskutiert.
Trotz der Geschehnisse mit den prügelnden Polizisten ist mir von diesem 7. Oktober vor allem eins in Erinnerung geblieben: dieses Raumschiffgefühl im Palast, der völlig abgenabelt war von der Realität in der DDR. Das werde ich nie vergessen, weil es das Ende der DDR, das ja viel früher begonnen hatte, symbolisierte. Am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, gastierten wir übrigens erneut im Palast der Republik. Ich bin dann nach dem Konzert auch zum Ku'damm gefahren, es war die Nacht der Nächte.
Aufgezeichnet von Gunnar Leue.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben