40 Jahre Gothic-Bewegung: Als Dunkelheit zum Trend wurde
In den Hinterhöfen des guten Geschmacks entstand Anfang der 80er aus einem Clubtrend die Gothic-Bewegung. Sie hat sich als sehr langlebig erwiesen.
Sie zogen durch die Sommernacht, die Haare auftoupiert, die Gesichter weiß geschminkt, Mund und Augen schwarz kontrastiert. Schwarz auch die dominante Farbe ihrer Kleidung, ob langes Gewand oder Fetisch-Look. Zerschnittene Netzstrumpfhosen fanden vielfältig kreativen Einsatz, dazu Amulette, afrikanischer Schmuck oder metallene Ketten. Sie hatten keinen Namen, und niemand von ihnen ahnte, dass sie gekommen waren, um zu bleiben. Denn eigentlich wollten sie nur zur Eröffnung eines neuen Clubs in London, sein Name „Batcave“.
Das heutige Klischeebild der Phase nach Punk lässt fragen, was denn bitte das Neue sein sollte an jenem Londoner Club für düstere Nachtgestalten, der vor 40 Jahren, am Mittwoch, den 21. Juli 1982, seine Pforten öffnete. War das nicht ein alter Hut? Tatsächlich klackerte und knarzte das neunminütige gespenstische „Bela Lugosi’s Dead“ der britischen Band Bauhaus bereits seit 1979 aus den Rillen einer Maxisingle.
Im Jahr 1980 erklang erstmals die federnde Edward-Munchiade „A Forest“ von The Cure, definitiv der Titelsong, gäbe es je die Seifenoper „Gothic“. 1981 veröffentlichten Siouxsie and the Banshees mit „Juju“ das beeindruckendste aller Gothic-Alben und präsentierten bereits den kompletten Szenelook avant la lettre.
Der ließ sich auch schon im Video von Visages Hit „Fade to Grey“ sehen. Just mit dem Abebben des durch Visage maßgeblich geprägten, unterkühlt artifiziellen New-Romantic-Trends entstand ein Freiraum.
Entertainment derer ohne Job
Wo sind die neuen Sensationen? Die einen bewegten sich in Richtung Slapbass-Funk und Soul-Pop, und die anderen?
Sie sehnte es nach wilderem Spaß, lederschwarze Glam-Rock-Fantasien, Tabubruch und der Liebe zum Schauder einer Generation, aufgewachsen mit Fernsehausstrahlungen der (von Kate Bush besungenen) britischen Hammer-Horrorfilme, den im Vereinigten Königreich irre populären Gruselcomics sowie seltsamen Popgestalten wie Screaming Lord Sutch (der angetan mit einem Messer und seinem Gassenhauer „Jack the Ripper“ in den 1970ern auch in Ilja Richters TV-Show „Disco“ das Publikum verschreckte) und, ja, nicht zuletzt jenem britischen Hang zum kultischen Paganismus, der gut jeder dritten Episode von Inspector Barnaby den Stoff liefert.
All das war Quell für ein Entertainment derer, die eh keinen Job hatten oder als Erste in der Familie studieren konnten (vorzugsweise an der Artschool). Eine burleske Party eher fern des Ernstes von Joy Division, kein Wunder, dass die Musik als Erstes den Begriff „Positive Punk“ verpasst bekam.
Dramatische Selbstinszenierung
Die Bands trugen verheißungsvolle Namen wie Sex Gang Children, Southern Death Cult, Alien Sex Fiend, Sad Lovers and Giants und Sisters of Mercy, sie spielten lange Stücke mit kreischenden Nebelgitarren, wabernden Bässen und tribalistischen Drums oder elektrischen High-Energy-Rhythmen. Ihre Sänger liebten die dramatische Selbstinszenierung.
Doch neben jenen aus lieben Elternhäusern, wo man sich höchstens fragte, was wohl die Nachbarn denken werden, tanzten da auch die Verdroschenen, Gehänselten, Misshandelten, Vernachlässigten, Ungeliebten und jene, die zu jung mit der Last des Schicksals konfrontiert worden waren. „Ich trage meinen schwarzen, wadenlangen Ölzeugmantel, gepenstisch wirken meine geschminkten Augenlider, die unteren Ränder habe ich mit Kajal nachgedunkelt“, berichtet Rupert Thomson 2010 in seinem Roman „This Party’s Got to Stop“ über seine Zeit im Batcave nach dem Tod seiner Eltern.
Dass der Rezensent im Guardian ihn dafür lobte, seine Peinlichkeiten einzugestehen, zeigt, wie wenig vom Anlass jeglicher Popkultur heute noch verstanden wird. Gelästert wurde allerdings seit den ersten Tagen. Als der Wuppertaler Post-Punk-Gemischtwarenclub Up binnen Monaten von den „Schwarzen“ übernommen wird, beherrscht eine ungelenke Menge die achteckige Tanzfläche, sie tänzeln vor und zurück, bücken sich am Ende ihres Weges. „Die suchen ihre Kontaktlinsen“, so der übliche Gag.
Dauerhafte Szenen
Im Dortmunder Memphis ist der Tanz auf der hydraulisch ihre Abmessungen ändernden Tanzbühne energetischer, wer Pech hat, landet zum Vergnügen anderer mit den Händen auf dem scherbenbedeckten Boden – die beiden Orte werden Vorbild für das Zwischenfall in Bochum, ab 1984 der legendärste deutsche Gothic-Club, bald mit internationalem Ruf.
Denn Deutschland wird zum Zentrum des Nachhalls, auch wenn dieser ebenfalls in Spanien, Griechenland und Israel dauerhafte Szenen hervorbringt. Überall eröffnen nun Läden; Dunkelheit, fern der Burleske der Anfangstage, wird Trend und bekommt etwas Provinzielles.
Andere bleiben lieber daheim und hören Nick Cave. Goth gilt bald als Problembewältigungsmusik, derweil das Aktuelle andere Wege wählt – immer weniger Gestylte füllen die Clubs, Sportswear dominiert den Techno. Der Studenten fremde Habitus, allein für die Nacht zu leben, weil der Tag nur Maloche oder Arbeitslosigkeit bedeutet, schien verklungen.
Neue Strömungen
Der grausige Mittelalter-Rock der 90er bot komplette Weltflucht nur für Rollenspieltypen, doch wo er die ersten Auflagen des Wave- und Gothic-Treffens in Leipzig beherrschte, zeigten sich auch neue Strömungen. Die belgische, hüftsteif grimmige Electronic Body Music transformierte sich zum mitunter schlagerhaften Future-Pop und in diverse Adaptionen der Rave-Musik.
Die kreischenden Verzerrungen des pumpend stampfenden Power-Noise und Aggrotech verknüpften Industrial-Dissonanzen mit Gabber-Hardstyle-Techno. Projekte wie Combichrist, Agonoize, Industriegebiet oder Reaper beherrschten die Tanzflächen, beschrien zornig Beziehungsprobleme oder dröhnten sinister humorig durch die Hinterhöfe des guten Geschmacks.
Seit dem Jahr 2000 tanzten darauf Kids mit neonglimmenden Haarapplikationen und Leuchtstäben in einem vom frühen Techno-Combat-Look und dem japanischen Visual-Kei beeinflussten Stil. Eine neue Generation gibt der Szene ein komplett neues Antlitz. Nicht alle sind erfreut über die Cyber-Goths, doch da sind nun wieder junge Menschen, die sich stundenlang stylen und ihre energischen Tänze als mühsam einstudierte Choreografie anlegen. Die Nacht lebt!
Sich vampirisch am Gestern nähren
Zur selben Zeit setzte ebenfalls das 80er-Revival ein, französischer Minimalelektro und vergessene NDW-Stücke addierten sich zu den altbekannten Sounds. Im Ruhr- sowie im Rhein-Main-Gebiet füllen die Freaks aller Art mehrstöckige Clubs mit bis zu fünf unterschiedlich beschallten Tanzflächen. Was das Berliner Berghain erträumte, da lebte es und ebbte doch um 2014 langsam ab.
Wieder fehlte es an neuen Sensationen. Wenige Stücke vermochten in den Subszenen den Brückenschlag, und schon sie nährten sich vampirisch am Gestern: das auf dem New-Wave-Hit „I Ran“ basierende „Darkest Allies“ des Duos Light Asylum oder „Occupations“ der San Franciscoer Inhalt, welches DAFs „Kebab Träume“ mit einem Text im Käptn-Peng-Schlaumeierstil versetzte, sowie Boy Harshers „Pain“, das den Auftakt von „Kids in America“ in einen David-Lynch-Soundtrack morphte.
All das wurde über Jahre totgespielt, derweil vielen der sich weltweit gründenden stylischen Retro-Post-Punk-Duos einfach die musikalischen Ideen fehlten.
Im Jahr 2018 wendet sich das Schweizer-britische Projekt Lebanon Hannover mit „Du scrollst“ an die Smartphone-Clubtristesse: „Wo bist du jetzt? Wo bist du gerade? Hier im Cave oder im Space da draußen? Spürst du eigentlich die Stimmung, die wir haben?“ – „Und du wippst und du tippst und du glaubst, dass du tanzt.“
Heute scheint die Verheißung der Nacht wieder erwacht, jene Clubs, welche die Coronazeiten überstanden, sind wohlgefüllt. Kürzlich ließ sich das Retro-Disco-Projekt Hercules and Love Affair von der Gothic-Drummerlegende Budgie rhythmisch antreiben – das Echo der Tanzfläche auf sorgenvolle Zeiten? Meldet sich gar der Außenseiter wieder, der seinen Freiraum der Akzeptanz vorzieht?
Noch fehlt der Funke, wie überall in der Musik. Dafür tanzen Leute in Lederjacke und mit kühnem Irokesenschnitt zu frühem Italo-Disco-Sound, ob catchy oder dunkel-bizarr wie Charlies „Spacer Woman“, Permutationen der Vergangenheit bar der zwanghaften Pop-Ironie derer, die zu schlau sind für Leidenschaft.
Man könnte denken, seine Identifikationskraft habe Gothic als Clubkultur zugunsten einer Lebenseinstellung zerstört, doch vielleicht stimmt genau das Gegenteil: 40 Jahre Lebenswelt voller Stilwandel und immer noch verlästert von den Hütern des feinen Geschmacks, dieser Triumph war keiner anderen Bewegung des Popzeitalters beschert.
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