4 Wochen USA ohne Hotels und Pensionen: Abenteuer Privatsphäre

Ein schwuler Republikanerwähler in Memphis, eine alte Jazzlady in New Orleans, eine NGO-Chefin in Chicago: Servas ermöglicht das Reisen von Mensch zu Mensch.

Annies Lieblings-Jazzclub: Das "Spotted Cat" in New Orleans. Bild: Tchacky CC BY 2.0

Der Taxifahrer fackelt nicht lange. Kaum sitze ich auf der Rückbank, greift er nach hinten: "Die Nummer", raunt er mit tiefschwarzer Stimme und blickt in mein fragendes Gesicht. "Gib mir die Nummer!" Ungeduldig reißt er mir den Zettel aus der Hand und tut, was eigentlich ein Unding ist: Er ruft das Ziel an.

"Hi, ich hab hier diese Lady im Auto sitzen, wo muss ich langfahren, Mann?" Beschämt sinke ich tiefer in den Sitz. Der Mann, mit dem der forsche Fahrer spricht, ist mir völlig unbekannt. Gleich werde ich ihn kennen lernen. Und staunen. Es ist einer dieser Momente auf dieser überraschungsreichen Reise durch Amerika, in dem sich das Unvorhersehbare zuspitzt und zu einem aufregenden Spannungsbogen wölbt.

Es ist kurz vor Mitternacht in Memphis. Über rissige Straßen und Schlaglöcher hin- und hergeworfen auf der Rückbank geht es durch die ausgestorbene Innenstadt. Durch den verröchelten Mythos einer einstigen Musikmetropole, wo jeder dritte Laden ein Leerstand ist und der Blues zwischen billigen Bierbars verhallt. Doch das ist zweitrangig. Auf mich wartet das Abenteuer des völlig Unbekannten, Fremden. Auf mich wartet Colin.

Er steht vor der Tür, als der Fahrer den Gast aus dem Wagen ausspuckt. "Na, geschafft?", sagt er ohne ein Lächeln. In der Hand hält er noch das Handy, mit dem er den Mann am Steuer herlotsen musste in dieses aus dem Boden gestampfte Einfamilienhausviertel für reiche Weiße auf einer unwirklichen Wohninsel am Mississippi River.

Colin

Hier lebt Colin, Anfang vierzig, Republikaner-Wähler, schwul. Er wird die nächsten drei Tage mein Gastgeber sein. Und ich werde, wie er mir später sagt, "seine Abwechslung sein im Alltag zwischen früh aufstehen, mit dem Hund raus, Arbeiten am Computer, Fitness-Studio, Fernsehen, früh ins Bett". Es sind drei Tage, in denen Lebenswelten aufeinandertreffen und Horizonte sich weiten.

Er führt mich in den ersten Stock seines teppichbodengedämpften Singlepalasts. Dort liegt das Gästezimmer mit Bad und Balkon. "Fühl dich ganz wie zu Hause", sagt Colin und zieht sich zurück. Ganz wie zu Hause? Wie in Zeitlupe gleite ich auf das mit Textil beladene Gästebett, mein Kopf sinkt langsam ein in ein flauschiges Konglomerat von Kissen. Bin ich die Prinzessin auf der Erbse und nicht vielleicht doch in einem Hotel gelandet? Oder auf der Southfork-Ranch – und gleich kommt Sue Ellen herein und bietet mir einen hochprozentigen Drink an?

Vier Wochen durch Amerika und dabei ausschließlich privat wohnen – das war mein Plan und er ging bis zum Schluss auf. Möglich machte es die Gastgeberorganisation Servas. Im Jahr 1949 von dänischen Studenten gegründet mit dem Ziel, durch persönliche Kontakte Vorurteile zwischen den Völkern abzubauen, ist Servas heute in mehr als 120 Ländern auf allen Kontinenten vertreten mit rund 14.000 Gastgebern. Besonders viele davon finden sich in den USA – und es ist ganz einfach, zu ihnen Kontakt aufzunehmen: In einem Buch, das Servas den Reisenden nach einem persönlichen Vorgespräch in die Hand gibt, finden sich alle ihre Adressen und Telefonnummern.

Annie

Annie empfängt mich in routinierter Herzlichkeit am Hoftor zu ihrer Wohnung mitten im French Quarter in New Orleans. Die lange Zugfahrt war erschöpfend, die Nacht ist schwülheiß. Doch die quirlige 74-jährige zeigt keine Spur von Müdigkeit: "Kann ich dir was anbieten, ein Bier vielleicht?", fragt sie in ihrem winzigen Wohnzimmer, wo man sich bei einem ersten Drink beschnuppert. "Wie siehts aus?" Sie lächelt und hält den Kopf leicht schief: "Bist du zu müde, oder soll ich dir noch meinen Lieblings-Jazzclub zeigen?"

Auf eine tapsige Art hyperaktiv tänzeln ihre alten Füße zum flotten Takt des Jazztrios im "Spotted Cat", die Arme machen kleine Ruderbewegungen, in ihrem Gesicht steht ein beseeltes Lächeln. Sofort beginnt man mitzutänzeln und ahnt, dass Annie, die in der verrauchten Bar immer fröhlicher wird, mehr vom Zauber New Orleans' erzählen kann als eine Sightseeingtour. "Na?", fragt sie in einer Musikpause und legt den Kopf wieder schief. "Noch ein Bier?"

Die persönliche Begegnung beim Reisen von Mensch zu Mensch bringt Effekte mit sich, die ein Urlaub in Pensionen oder Hotelzimmern niemals bietet. Dieser Weg ist nicht nur der günstigste, denn die Gastgeber verlangen kein Geld dafür, dass sie Besucher für ein paar Tage an ihrem Leben teilhaben lassen. Der Vorteil ist: Die Gastgeber kennen sich aus in ihrer Stadt und können Tipps geben, die nicht im Reiseführer stehen.

Im Zug fahre ich durch die weiten Felder des Heartlands von Amerika weiter Richtung Chicago. Das Gepäck ist mittlerweile um ein Erinnerungsstück jedes Gastgebers angewachsen. Im Genick klemmt das Nackenkissen, das Melanie aus Washington eingepackt hat. Im Ohr scheppern die alten Bluesaufnahmen, die mir der New Yorker John mit auf den Weg gegeben hat. Eine ganze Woche dauerte der Aufenthalt bei diesem Musikerkauz, der mich trotz seiner eigenbrötlerischen Art aufnahm wie eine alte Bekannte.

Eines ist klar: Das Reisen von und zu privat kommt nicht ohne Kommunikation aus, und das kann anstrengend werden. Man muss sich auf Fremde einlassen können und beim Schritt über deren Türschwelle in die Privatsphäre Unbekannter auch eigene, innere Grenzen überwinden. Wer jedoch wenig Berührungsängste hat und sich gerne unterhält – auch mit Unbekannten – für den ist das auch noch der beste Sprachkurs.

Kathleen und Robert

Gegen Ende der vier Wochen voller unterschiedlicher Gastgeber bin ich bei Kathleen und Robert in Chicago angekommen. Mittlerweile bewege ich mich mühelos auf amerikanisch in der eloquenten Lebenswelt des pensionierten Politikprofessors und der Chefin einer Nichtregierungsorganisation.

Am Frühstückstisch im Wintergarten teile ich die Washington Post mit Kathleen, schaue nachmittags im Hobbykeller amerikanische DVDs im Originalton, übe mich beim Dinner in Konversation über Bildungssysteme oder die Macht von Walmart – und staune noch im Redefluss selbst über meine vokabelstarken Beiträge.

Dass Kathleen und Robert bei Servas mitmachen, ist kein Wunder. Die beiden sind selbst ständig in der Weltgeschichte unterwegs, genauso gern beherbergen sie Fremde. Sie sind neugierig auf Lebensgeschichten und Sichtweisen, ohne aufdringlich zu sein. Für sie ist es selbstverständlich, dass sie dem Gast nicht nur zeigen, wie man die Alarmanlage an- und ausschaltet oder wo in der Kellerbar das Bier steht, sondern ihn auch zum Opernbesuch einlädt oder am Abend der Abreise zum Bahnhof bringt.

Der Abschied fällt bei jedem Gastgeber schwerer, als wenn man ein Hotel verlassen würde. Aber gerade wegen dieser Nähe ist das Abenteuer Privatsphäre so aufregend und überraschend.

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