350 Jahre Staatsbibliothek: Auf Büchersuche zwischen deutscher Geschichte
Mit einer Ausstellung erlesener Bände und Schriften, darunter eine Gutenberg-Bibel, feiert die Berliner Staatsbibliothek ihren 350. Geburtstag. Die Schau geht im Zeughaus aber unter, denn man findet sie nicht.
Im Bibliothekswesen vordigitaler Zeit erinnert man sich noch mit Schrecken daran, wenn Bücher aus Versehen oder mit Absicht falsch in die kilometerlangen Regalwände einsortiert wurden. Versteckt zwischen andern Bänden, hinter Stellwänden oder Katalogen verschwanden sie meist für lange Zeit oder gar auf Nimmerwiedersehen. Erst langes Suchen oder Kommissar Zufall brachte sie, wenn überhaupt, wieder zum Vorschein und machte die Nutzung möglich.
Die jetzige Ausstellung "Eine Bibliothek macht Geschichte. 350 Jahre Staatsbibliothek zu Berlin" scheint diese schlechte Sitte zum Konzept gemacht zu haben. Zwar kann man den Kuratoren gute Absichten unterstellen. Sie haben versucht, die rund 50 prächtigen Exponate aus der reichen Sammlung der Staatsbibliothek in einem "epochalen europäischen Kontext" zu zeigen, um deren Bedeutung zu steigern.
Das misslingt: Weil die Sonderschau zum 350. Jubiläum des Hauses Unter den Linden - das wegen der umfassenden Renovierung bis 2012 geschlossen bleibt - inmitten der ständigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) gelandet ist, treffen die Besucher nur auf Unordnung. Die 350-Jahre-Ausstellung zwischen dem DHM-Sammelsurium aus originalen Bildern, Karten, Prachtbänden, Fahnen, Rüstungen, Kanonen, Musikinstrumenten, Webstühlen sowie den Dokumenten von Kriegen oder Arbeiteraufständen aus unserer tausendjährigen deutschen Geschichte muss man regelrecht suchen.
Anders gesagt: Man fahndet wie ein Detektiv nach den Vitrinen an neun Bibliotheksstationen. Wer beim Rundgang durch die erste Etage im Zeughaus fündig wird, hat schlicht und einfach Glück gehabt.
Dass es die Sonderschau nicht in das neue Bibliotheksmuseum in der Staatsbibliothek an den Linden schaffen würde, war wegen der Umbautermine klar, die Auslagerung in das benachbarte DHM mit seinen vielen Besuchern darum keine schlechte Idee. Ein eigenes Konzept und Räumlichkeiten im DHM hätten die Ausstellungsstücke aber umso mehr verdient, besitzen die wertvollen Stücke doch genug Spannung und Reiz. Seit ihrer Gründung 1661 spiegelt die heute größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutschsprachigen Raum mit ihren gesammelten Prachtbänden, Karten, Drucken, Partituren und Handschriften die enorme Bedeutung der Schrift wider.
Zugleich zeigen die Bücher neben ihrer Funktion als Forschungs- und Wissensspeicher sowie als kulturelles Gedächtnis ihren direkten Einfluss auf die deutsche und europäische Historie.
Hans Ottomeyer, Direktor des DHM, erinnerte daran bei der Eröffnung zu Recht. Die Sammlung verweise sowohl auf die "Quellen historischer Überlieferung" als auch auf "die Wirkungsmächtigkeit des Buches für die Geschichte selbst": Die Bibel, der Koran, Das Kapital oder antike philosophische Schriften, Gesetzesbücher, Literatur und Briefe hätten die Welt verändert.
Mit einer Tour d'Horizon durch die "bedeutenden Zeugnisse menschlichen Schaffens", wie die Direktorin der Staatsbibliothek Barbara Schneider-Kempf betonte, hat man für die Ausstellung rund 50 "Schätze" ausgewählt, die wahrlich "Geschichte machten": Dem Evangeliar Codex Wittekindeus, einer um das Jahr 970 in Fulda gefertigten Prachthandschrift, folgt das schön gedruckte und wunderbar bemalte Exemplar einer - mit einem t! - Gutenberg-Bibel auf Pergament. Weltweit erhalten sind nur etwa 50 Exemplare oder Fragmente der Gutenberg-Bibel und dass diese im DHM zwischen Ritterrüstungen aus der gleichen Zeit präsentiert wird, kann man mit viel gutem Willen auch als ironische Replik auf einen Ex-Verteidigungsminister deuten.
Als weiteres "Spitzenstück" hat Schneider-Kempf Flugblätter aus der Zeit der Reformation und der Bauernkriege ausgelegt. Es sind Schriften aus den Jahren 1520 bis 1526, welche die gesellschaftlichen Umbrüche jener Zeit reflektieren und zu den politischen und religiösen Fragen Stellung beziehen - nicht aber im Kontext staubiger Waffen, Porträts oder Pferdegeschirr funktionieren.
Wie aufschlussreich Archive zur eigenen Geschichtsvergewisserung sein können, beweisen die Dokumente aus der frühen Zeit der Bibliothek. Neben der Gründungsurkunde der "Churfürstlichen Bibliothek zu Cölln" 1661 zeigt die Ausstellung Portraits des Großen Kurfürsten mit chinesischer Beschriftung und Geschenke an die Bibliothek (darunter eine Vogelperspektive Berlins aus dem 17. Jahrhundert), die ihre Geburt zur Zeit des Absolutismus zum Staatsakt und zur Unterstützung der Wissenschaft stilisieren.
Friedrich Wilhelm I. - der Große Kurfürst - hatte ihre Gründung 1659 beschlossen, aber erst im Jahr 1661 wurde die Bibliothek im Schlossflügel eröffnet. Sie war keine kleine Sache, als Konkurrentin zu Wien oder Paris wurde sie mit einem jährlichen Etat von 325 Talern ausgestattet. 1688 umfasste der Bestand mehr als 20.000 Bände und 1.600 Handschriften. Im 18. Jahrhundert zog die königliche Institution an den heutigen Bebelplatz, erst 1914 unter Wilhelm II. an die Linden. Nach 1918 wuchsen die Bestände der jetzt Preußische Staatsbibliothek genannten Einrichtung auf über drei Millionen Exemplare und große Sondersammlungen an. Heute sind es über 13 Millionen.
Die Teilung der Stadt 1961 spaltete auch die Bibliothekslandschaft: Neben der Ost-Berliner Staatsbibliothek entstand in West-Berlin die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz - die "Stabi". 1992 wurden beide Standorte zu einer Staatsbibliothek in der Trägerschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) zusammengeführt - wobei die Stabi den modernen Anteil der Bestände beider Häuser verwaltet.
Neben den Geschichtsdokumenten wie einem Brief des Alten Fritz an Voltaire vom April 1740 oder dem "Lied der Deutschen" in der Originalabschrift anno 1841 von Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland, führt die Staatsbibliothek auch Beispiele ihrer außerordentlichen Musikhandschriften vor: Johann Sebastian Bach 1747 komponiertes "Musicalisches Opfer", Wolfgang Amadeus Mozarts Arien des Figaro aus der Oper "Le nozze di Figaro", 1786, die in Wien uraufgeführt wurde, oder Robert Schumanns Vertonung des Mörike-Gedichts "Die Soldatenbraut" (1847).
Die Schau zelebriert nostalgische Zeiten. Dass neuere Erwerbungen - Nachlässe und Blätter aus dem 20. Jahrhundert von Einstein bis Bonhoeffer - nicht ausliegen, weil sie nicht in den DHM-Kontext passen, ist jedoch fatal. Wie überhaupt der Umgang mit der Moderne an der Potsdamer Straße - mit der Stabi von Hans Scharoun - und ihrer Funktion nicht zum 350. Geburtstag thematisiert wird. Damit wird eine lange, politisch und kulturell besondere Zeit in der Geschichte der Staatsbibliothek und ihre Teilung in zwei Häuser sowie die Wiedervereinigung ausgeblendet. Ebenso entzieht sich die Schau damit dem Thema des Vergleichs: Wie gut ist man eigentlich in der aktuellen Forschung aufgestellt neben der Bibliotheque François Mitterrand oder der neuen British Library?
Das wirft am Ende die Frage auf, ob das Gastspiel im DHM-Sammelsurium nicht auch ideologischer Natur ist. Der Verbleib in Mitte - man hätte wahrscheinlich ebenso in der Stabi Platz gefunden - spielt bewusst auf die Rolle der Staatsbibliothek im vereinigten Berlin an. Sie bildet in der Bibliothekslandschaft das alte und neue Zentrum in der Stadt, so wie sie das einmal in Preußen war. Die Moderne Spielart der Bibliothek, das Haus am Kulturforum, bleibt Peripherie - wie das ungeliebte Kulturforum im Ranking der kulturellen Standorte auch.
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