35 Jahre Kirchenasyl: Die Angst ist geblieben
Kemal Altuns Sprung aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts begründete das Kirchenasyl. Damals war mehr Solidarität, sagen Flüchtlingsinitiativen.
„Wir müssen daran arbeiten, dass Abschiebungen in der öffentlichen Meinung wieder in die Schmuddelecke gestellt werden“, sagt Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat vergangene Woche bei einer Veranstaltung des Vereins „Asyl in der Kirche“. „Dort gehören sie hin. Derzeit werden schnelle Abschiebungen als Lösungen für alle möglichen politischen Probleme gepriesen.“ Begeht ein Asylbewerber eine Straftat, dann werde sofort gefragt, warum er nicht schon abgeschoben wurde.
Wie Flüchtlingsinitiativen diesen Sinneswandel in der Öffentlichkeit hinbekommen wollen, darüber beriet sich der Flüchtlingsrat bei der Kirchenasyl-Veranstaltung mit Vorkämpfern der Flüchtlingsarbeit aus den 1980er Jahren. Denn am vergangenen Donnerstag vor 35 Jahren hatte sich Kemal Altun in Erwartung seiner Abschiebung aus dem Fenster des sechsten Stocks des Berliner Verwaltungsgerichtes in der Hardenbergstraße gestürzt.
Der Tod löste eine riesige Protestwelle aus. 6.000 Menschen trugen an einem heißen Sommertag den Sarg des Toten von Kreuzberg nach Mariendorf. Die taz schaltete Todesanzeigen. Sechs Jahre später entstand ein Mahnmal für Altun an der Hardenbergstraße.
Dabei hatte es damals zunächst so ausgesehen, als ob der vor dem Militärputsch in der Türkei nach Deutschland geflohene Mann Schutz erhalten sollte, erinnert sich die damalige Abgeordnete der Alternativen Liste, Rita Kantemir. Altun hatte also Asyl erhalten, doch dann hatte das Bundesinnenministerium dagegen geklagt und Daten aus dem Asylverfahren an den Nato-Partner Türkei gesandt – verbunden mit der Frage, ob der denn keinen Auslieferungsantrag stellen wollte. Er wollte, und Altun kam in Auslieferungshaft.
Rita Kantemir erinnert sich: „Als ich ihn dort besuchte, durfte ich nicht Türkisch mit ihm sprechen. Jede andere Sprache als Deutsch war ihm untersagt. Er saß 13 Monate lang in strenger Einzelhaft und konnte nur mit seinem Anwalt sprechen.“ Dass das Verwaltungsgericht geneigt war, ihm Asyl zu gewähren, hatte der von der Haft psychisch zermürbte Mann nicht verstanden. Altun sprang aus dem Fenster.
Große Soli-Bewegung
Altuns Tod löste eine regelrechte Bewegung gegen Abschiebungen aus. In der Kreuzberger Heiligkreuz-Gemeinde, in der zuvor Menschen für Altuns Freilassung in den Hungerstreik getreten waren, wurden die bundesweit ersten Kirchenasyle geschaffen, erinnert sich der damalige Pfarrer Jürgen Quandt.
Es entstanden Flüchtlingsräte, und die Vereine Pro Asyl und Asyl in der Kirche. Überall habe Aufbruchstimmung geherrscht, erzählt Rita Kantemir. „Wenn ich mir die öffentliche Meinung heute ansehe, wird mir dagegen angst und bange.“ Vieles, was damals erreicht wurde, werde gegenwärtig wieder rückgängig gemacht, damit die Bundesregierung schneller abschieben kann, sagt auch Brezger vom Flüchtlingsrat.
„Wir erfahren von Menschen, die abgeschoben wurden, dass Fixierungen mit Gurten während der Abschiebung an der Tagesordnung sind“, führte die Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats aus. „Es gibt Fälle von massiven Schlägen durch Bundespolizisten. Auch zwangsweise Medikamentenabgaben zur Ruhigstellung während der Abschiebungen seien dokumentiert. Oder solche Fälle, wo sich Flüchtlinge bei der Ausreise entkleiden mussten. Brezger sagt: „Das betrifft selbst ältere Frauen, für die dies natürlich sehr entwürdigend ist.“
Der Flüchtlingsrat stützt sich dabei auf das Forum Unabhängige Abschiebebeobachtung, das seit 2013 auf den Flughäfen Tegel und Schönefeld aktiv ist und bei dem neben den Kirchen auch Wohlfahrtsverbände mit im Boot sind. „Uns werden immer mehr Einzelfälle bekannt“, sagt Brezger.
Auch die Berliner Landespolizei, die die Abzuschiebenden in der Unterkunft abholt und zum Flughafen fährt, stehe diesbezüglich in keinem guten Licht da. Brezger berichtet, dass in einzelnen Fällen Eltern und Kinder in unterschiedlichen Autos zum Flughafen gefahren worden seien.
Traumatische Szenen
Sie erzählt von einem Kind, das sich Monate nach einem schließlich gestoppten Abschiebeversuch immer noch einnässe, wenn ein Polizeiauto vorbeifahre. „Besonders bedenklich ist es aber, dass immer öfter Gutachten von niedergelassenen Ärzten über die medizinischen Gefahren einer Abschiebung nicht anerkannt werden. Die Innenverwaltung bringt dann eigene Honorarärzte zu den Abschiebekandidaten, und die entscheiden in einem wenige Minuten dauernden Gespräch ohne medizinische Untersuchung über die Reisefähigkeit“, kritisiert Brezger.
Elisabeth Ngo von der Brandenburger Initiative „Woman in Exil“ hat im Sommer Flüchtlingslager in verschiedenen Bundesländern besucht. „Die häufigste Frage der Frauen war: Wie können wir Abschiebungen stoppen?“ Vieles, was längst erreicht war, sei wieder zurückgenommen worden, meint sie. „Bis 2014 waren die Abschiebeknäste leer, und viele wurden geschlossen.“ Das hatte seinen Grund: Juristen hatten Urteile erstritten, wonach die Verhängung von Abschiebehaft an ganz klare Voraussetzungen geknüpft werden musste.
Jetzt werden gerade wieder neue Abschiebeknäste gebaut. Auch in Berlin entsteht Ende September in Lichtenrade ein neuer Gewahrsam mit acht bis zehn Plätzen für Gefährder. „Gefährder ist ein juristisch schwammiger Begriff“, findet Brezger.
Zurückgeschraubt würden auch Regelungen zum Kirchenasyl, berichtet Bernhard Fricke vom Verein Asyl in der Kirche. Gut 90 Prozent aller Kirchenasyle betreffen sogenannte Dublinfälle. In diesen schützt das Kirchenasyl die Menschen vor Rückführungen in denjenigen EU-Staat, in dem sie erstmals registriert wurden, wo sie aber keinen Schutz fanden.
Bisher wurde auf solche Rückführungen verzichtet, wenn der Flüchtling bis zu sechs Monate im Kirchenasyl verbrachte. Laut einem Erlass von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vom August sollen es in Zukunft bis zu 18 Monate sein, die der Flüchtling in der Kirche ausharren muss. „Wir haben noch keine praktischen Erfahrungen damit“, sagt Fricke. Aber Juristen würden den Erlass für rechtswidrig erachten. „Für Flüchtlinge und für Kirchengemeinden erschwert das die Situation.“
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