30 Jahre Tschernobyl: Eine Aufgabe für Generationen
Die Region um Tschernobyl ist Sperrgebiet. Doch auf dem Gelände des ehemaligen AKW arbeiten 3.000 Menschen an der Zukunft.
Aufgebaut wurde der Jahrmarkt in der ukrainischen Stadt Prypjat vor genau 30 Jahren, um am 1. Mai 1986 den Tag der Arbeit zu feiern. Dazu kam es nicht mehr. Am 27. April, einen Tag nach der Reaktorkatastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl, mussten die rund 50.000 Einwohner die Stadt verlassen. Denn Prypjat liegt nur rund vier Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt.
Die Stadt, die seit 30 Jahren menschenleer ist und allmählich verfällt, wirkt wie die perfekte Kulisse für eine Filmdystopie. Was sie so eindrucksvoll macht, ist, dass es keine Kulisse ist.
Wie überstürzt die Menschen 1986 von hier aufbrachen, ist offensichtlich. Im Kulturpalast „Energetik“ stehen noch die Plakate („Lernen, lernen, lernen – W. I. Lenin“), mit denen bei der Maiparade der damaligen Sowjetrepublik die verdienten Führer und der Segen der Atomkraft gepriesen werden sollte.
Tschernobyl und die Folgen
Denn von der Atomkraft lebten so gut wie alle Einwohner von Prypjat: Die Stadt war eigens für die Arbeiter des Kraftwerks in Tschernobyl gegründet worden. An einer Fassade steht in großen kyrillischen Buchstaben: „Friedliche Atome für jedes Haus“. Mit moderner Infrastruktur und viel Grün galt Prypjat als attraktiver Wohnort, berichtet Juri Tatartschuk. Drumherum ist viel Wald, durch Prypjat fließt der gleichnamige Fluss. Eigene Erinnerungen an das Leben dort hat der 31-Jährige, der heute Besucher durch die Geisterstadt führt, nicht. Doch seine Familie stammt von dort. „Das war eine schöne Stadt, man konnte viel fischen und jagen“, sagt er.
Heute liegt Prypjat im Sperrgebiet, das sich im Umkreis von 30 Kilometern um Tschernobyl erstreckt und nur mit Sondererlaubnis betreten werden darf. Zwar ist die Strahlenbelastung in einem Großteil des Gebiets nicht mehr akut gefährlich. Doch Wind und Regen haben das radioaktive Material nicht gleichmäßig verteilt; überall kann es daher sogenannte Hotspots geben, an denen noch immer hohe Strahlung herrscht.
Eingestürzte Dächer, zerstörte Inneneinrichtung
Auf die bekannten Hotspots weisen rostige Schilder hin, die das Radioaktivitätssymbol zeigen. Doch systematisch untersucht wurde die riesige Fläche bisher nicht.
Noch stärker verfallen als Prypjat sind die kleineren Orte rund um Tschernobyl. Im Dorf Salissja, etwa 20 Kilometer südlich vom Reaktor, sind die Häuser und Straßen kaum mehr zu erkennen zwischen den Bäumen und Sträuchern, die den Ort erobert haben. Die meisten Dächer sind eingestürzt, die Inneneinrichtung wurde geplündert oder zerstört. Nur das 1959 erbaute Kulturhaus ragt noch über den Wald hinaus.
Doch nicht überall ist das Sperrgebiet so menschenleer wie in Prypjat und Salissja. Mehr als hundert alte Menschen sind nach der Atomkatastrophe in ihre Häuser zurückgekehrt – illegal, aber geduldet.
Und auch am Standort des ehemaligen Atomkraftwerks herrscht reger Betrieb, als Ende März eine deutsche Abordnung um Umweltministerin Barbara Hendricks zu Besuch kommt. In der Kantine, die in einem Verwaltungsgebäude untergebracht ist, stehen Arbeiter in grauen Overalls an. Frauen mit bunten Papierkronen geben lauwarme Gemüsesuppe und Hühnchen aus, die zu leiser osteuropäischer Popmusik an weißen Kunststofftischen eilig verzehrt werden.
Farbige Poster an den Wänden des Gebäudes, die fröhliche Werktätige zeigen, versprühen sozialistischen Charme. Gerahmte Urkunden preisen die Erfolge der Belegschaft. Äußerlich ist hier noch Mitte der achtziger Jahre.
Vor 30 Jahren veränderte die Atomkatastrophe von Tschernobyl alles. Der GAU hatte ungeahnte Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die taz widmet sich in einer Sonderausgabe der „Generation Tschernobyl“. Mehr über die Reaktorkatastrophe sowie die Berichterstattung der taz damals und heute gibt es hier.
Nur Details zeigen, dass es sich nicht um eine beliebige Werkskantine handelt: Jeder, der hier unterwegs ist, trägt ein Strahlungsmessgerät um den Hals. Und beim Betreten und Verlassen des Speisesaals werden Hände und Schuhe in einer Schleuse auf radioaktive Partikel untersucht.
Etwa 3.000 Menschen arbeiten derzeit in Tschernobyl daran, die Hinterlassenschaften der Atomkatastrophe zu sichern. Unmittelbar neben dem havarierten Reaktorblock 4 entsteht eine riesige Stahlstruktur, die an eine überdimensionierte Bahnhofshalle erinnert. Es ist eine Schutzhülle, 150 Meter lang, 275 Meter breit und 108 Meter hoch, New Safe Confinement genannt, die bald über den Sarkophag von Block 4 geschoben werden soll. Kräne heben Stahlträger in die Höhe, Sägen kreischen und Schweißgeräte surren.
Das größte bewegliche Gebäude der Welt
Weil die Strahlung direkt am und vor allem oberhalb des havarierten Reaktors noch immer lebensgefährlich ist, wird die Schutzhülle nicht dort gebaut, wo sie später gebraucht wird, sondern gut 300 Meter daneben. Eine 30 Meter hohe Betonwand schützt die Arbeiter vor zu starker Radioaktivität.
Trotzdem arbeiten sie immer nur einige Tage am Stück im Kraftwerk und wohnen währenddessen im nahen Ort Tschernobyl. Um die zulässige Jahresdosis nicht zu überschreiten, müssen sie dann eine ebenso lange Pause außerhalb des Sperrgebiets einlegen – meist in der 50 Kilometer östlich gelegenen Stadt Slawutytsch, die nach der Reaktorkatastrophe neu gebaut wurde. Motiviert werden sie für den gefährlichen Job mit einem Monatslohn, der mit etwa 500 Euro mehr als doppelt so hoch ist wie das Durchschnittsgehalt in der Ukraine, wie ein Arbeiter sagt.
Ende dieses Jahres soll die neue Schutzhülle, ein 40.000-Tonnen-Koloss, über die strahlende Ruine von Block 4 gerollt werden. Sie wäre damit das größte bewegliche Gebäude der Welt.
Anders als der einsturzgefährdete Sarkophag aus Beton hilft die neue Stahlhülle nicht unmittelbar gegen Strahlung, sagt der stellvertretende Kraftwerksdirektor Valeriy Seida. Aber die neue, bogenförmige Hülle schirmt die Ruine, in der sich noch etwa 95 Prozent des Kernbrennstoffs befinden, gegen Witterungseinflüsse ab und verhindert, dass Wasser eindringt oder radioaktiver Staub freigesetzt wird. Ferngesteuerte Kräne im Tragwerk sollen es später ermöglichen, einsturzgefährdete Teile des alten Sarkophags zu demontieren – und irgendwann vielleicht auch den gesamten havarierten Reaktorblock. Doch dafür gibt es bisher weder Pläne noch eine Finanzierung.
Tschernobyl wird in der Ukraine noch viele Generationen beschäftigen. Das sagt auch der stellvertretende Kraftwerkschef: Eine Dauerlösung sei die neue Schutzhülle nicht. 100 Jahre soll sie halten und damit zumindest sicherstellen, dass der Reaktor der gegenwärtigen Generation keine neuen Probleme bereitet. Selbst dieser bescheidene Erfolg war lange nicht sicher, denn jahrelang ist in Tschernobyl praktisch nichts passiert.
1986. In den ersten sechs Monaten nach dem Super-GAU wird der havarierte Reaktor mit dem ersten Sarkophag zwar notdürftig abgeschirmt – von mehr als 200.000 Arbeitern, den sogenannten Liquidatoren, die teilweise erhebliche Strahlenschäden davontragen. Erst 1992 aber schreibt die gerade unabhängig gewordene Ukraine überhaupt einen Wettbewerb aus, mit dem das beste Konzept zur mittelfristigen Sicherung des Unglücksreaktors ermittelt werden soll. Die Sicherung beginnt erst im Jahr 1994, als die EU und die G-7-Staaten in die Planung einsteigen.
1997 übernehmen sie auch die Finanzierung. Denn die Ukraine ist damit überfordert, und Russland beteiligt sich kaum am strahlenden Erbe der Sowjetunion. In zwei spezielle Fonds, die die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung eingerichtet hat, fließen fast 3 Milliarden Euro; Deutschland steuert mehr als 300 Millionen Euro bei.
Doch auch mit viel westlichem Geld und mit einem Firmenkonsortium unter französischer Führung geht es in Tschernobyl nur langsam voran, weil die Arbeiten komplizierter sind als angenommen. Erst 2010 – 24 Jahre nach der Havarie – beginnt der Bau der neuen Schutzhülle; in diesem Jahr nun soll sie fertig werden.
Eigener Geigerzähler
Frühjahr 2016. Als die Abordnung aus dem deutschen Umweltministerium zu Gast ist, hat Wolfgang Cloosters seinen eigenen Geigerzähler dabei. Er leitet die Abteilung für Reaktorsicherheit. Die Strahlenbelastung, sagt er, sei für die Besuchergruppe bei einem dreistündigen Besuch auf dem AKW-Gelände nicht höher als beim dreistündigen Flug von Berlin nach Kiew.
Was ihn vornehmlich interessiert, ist die Zukunft. Die Gruppe ist gekommen, um sich den Fortschritt der Baumaßnahmen zeigen zu lassen. Die Schutzhülle ist nicht das Einzige, was auf dem Gelände neu entsteht. In der Nähe, hinter hohen Stacheldrahtzäunen, werden derzeit ein Zwischenlager für die Brennelemente aus den Kraftwerken und eine Konditionierungsanlage errichtet, in der Brennstäbe von Robotern in Behälter verpackt werden.
Denn neben dem havarierten Reaktorblock 4 gab es in Tschernobyl drei weitere Blöcke, die auch nach der Katastrophe noch viele Jahre lang Strom erzeugten. Valeriy Seida berichtet darüber sichtlich stolz. Er steht mit einem Zeigestock vor einem Modell, in dem das Atomkraftwerk deutlich besser aussieht als in der Realität des Jahres 2016.
Auf Applaus der deutschen Gäste kann er aber nicht hoffen: Dass der letzte Block in Tschernobyl im Jahr 2000 abgeschaltet wurde, lag auch am Druck aus Berlin. „Das war eine Bedingung dafür, dass wir die neue Schutzhülle mitfinanzieren“, sagt Kai Weidenbrück, Reaktorexperte im Bundesumweltministerium.
Die Pastellfarbe an den Wänden der neuen Konditionierungsanlage ist noch feucht. Sie soll im kommenden Jahr in Betrieb gehen. Daneben sind in zwei Reihen 232 Betonröhren mit je rund zwei Metern Durchmesser zu sehen, die an große Waschmaschinen erinnern: ein überdimensionierter Bienenstock, in denen die stählernen Atommüllbehälter eingelagert werden sollen. Auch diese 700 Millionen Euro teure Investition, deren Finanzierung noch nicht komplett gesichert ist, ist aber nur eine Zwischenlösung: Der hochradioaktive Atommüll aus Tschernobyl soll hier bis zu 100 Jahre gelagert werden.
Und dann? „Für ein Endlager gibt es noch keine Pläne“, sagt der stellvertretende Kraftwerksleiter. „Wir sind vollauf damit beschäftigt, eine Lösung für die nächsten 100 Jahre umzusetzen.“
Die deutschen Besucher sind von der Situation rund um die Atomruine bewegt. Die Sperrzone mit ihren verlassenen Dörfern lassen sie eher schweigsam auf sich wirken. Vor der Ruine des Reaktors dann sagt Umweltministerin Barbara Hendricks: „Hier merke ich – wir haben in Deutschland die richtige Entscheidung getroffen.“ Sie meint den Atomausstieg.
Bis heute zweifelt hier niemand an der Atomkraft
In der Ukraine selbst hatte die Katastrophe in Tschernobyl dagegen kaum Auswirkungen auf die Energiepolitik: Bis heute zweifelt hier fast niemand an der Atomkraft. „Wir sind ein armes Land, wir brauchen sie“, sagt die ukrainische Umweltministerin Hanna Vronska, die Hendricks bei ihrem Besuch in Tschernobyl begleitet. Die riesigen wirtschaftlichen Schäden durch den GAU blendet sie aus.
15 Reaktoren liefern derzeit etwa die Hälfte der Elektrizität des Landes. Daran soll sich auch nichts ändern. Für die ältesten AKWs werden derzeit Laufzeitverlängerungen geplant, damit sie nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nach 30 Jahren abgeschaltet werden müssen. Lange war sogar geplant, am Standort Chmelnyzkyi im Westen des Landes zwei neue Reaktoren russischer Bauart in Betrieb zu nehmen. Erst der Krieg zwischen der Ukraine und Russland hat diese Pläne gestoppt – ob vorläufig oder dauerhaft, ist offen.
Eine gesellschaftliche Debatte über die Gefahren der Atomkraft gibt es im Land nicht. „Die Menschen haben andere Sorgen“, sagt eine ukrainische Mitarbeiterin der deutschen Botschaft. Krieg, Korruption, Regierungskrisen.
Neben der Atomkraft setzt die ukrainische Energiepolitik vor allem auf Gas- und Kohlekraftwerke. Erneuerbare Energien spielen so gut wie keine Rolle – obwohl die Voraussetzungen gut sind. Komplizierte Auflagen, etwa die, dass regionale Bauteile verwendet werden müssen, haben den Ausbau verhindert. Denn solche Teile gab es schlicht nicht. Weil diese Beschränkungen kürzlich aufgehoben wurden, blickt die Branche der erneuerbaren Energien jetzt etwas optimistischer in die Zukunft.
Auch rund um die Reaktor-Ruine in Tschernobyl könnten eines Tages Solarzellen installiert werden, sagt der Leiter des Sperrgebiets, Vitali Petruk. „Platz gibt es hier genug“, sagt er. „Und eine gute Anbindung ans Stromnetz gibt es auch schon.“ Die Leitungen aus der Zeit vor der Havarie existieren noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW