30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Die verschwundenen Roma
Der rechtsradikale Hass von Rostock-Lichtenhagen richtete sich zuerst gegen asylsuchende Roma. Wir haben sie 30 Jahre nach dem Pogrom besucht.
I zabela Tiberiade ist noch nicht geboren, als etwas geschieht, das ihr ganzes Leben beeinflussen wird: Vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen marschieren Neonazis auf, werfen Molotowcocktails durch Fenster. Scheiben zerbersten, Menschen schreien, NachbarInnen applaudieren. Die Polizei schreitet nicht ein. Im Jahr 1992 wird die Stadt an der Ostseeküste vier Tage lang ein Ort des Schreckens. Diesen August jährt sich das Pogrom, das zu den prägendsten Fällen rassistischer Gewaltausbrüche in der Nachwendezeit zählt, zum dreißigsten Mal.
Empfohlener externer Inhalt
Izabela Tiberiade, heute 26 Jahre alt, kennt nicht viel mehr als ein Schwarz-Weiß-Foto aus dieser Zeit. Darauf eine Frau, die mit locker gebundenem Kopftuch auf einem Bordstein hockt. In ihren Armen ein kleines Kind, davor ein barfüßiges Mädchen – und eine Einkaufstüte mit dem Spruch: „Jetzt können Sie einpacken.“
Das Foto sei nach der ersten Evakuierung der Roma entstanden, sagt Izabela Tiberiade, als wir telefonieren – und analysiert: „Hier werden die Roma in einem Moment der Schwäche abgebildet.“ Tiberiade ist selbst Romni und Aktivistin, die sich weltweit gegen Rassismus gegenüber ihrer Community engagiert. Dann wird klar: Dieses Bild berührt auch ihre eigene Geschichte, es zeigt ihre Mutter, ihre Geschwister.
Tiberiades Familie gehört zu den Hunderten Roma, die Anfang der 1990er Jahre aus Rumänien nach Deutschland flüchten und in der Zentralen Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen Asyl beantragen. Irgendwann sind alle Zimmer belegt, wer jetzt noch kommt – und es sind viele, im Sommer 1992 rund 50 pro Tag –, muss vor der mitten in einem Wohngebiet gelegenen Aufnahmestelle im Freien übernachten. Die hygienischen Zustände sind erbärmlich.
Und was macht die Stadt? Statt die unwürdigen Lebensumstände der Geflüchteten zu verbessern, nimmt sie sie bewusst in Kauf – um Nachkommende abzuschrecken, erfährt man aus der Lokalpresse.
Rostock-Lichtenhagen gilt damals als sozialer Brennpunkt. Nach dem Mauerfall haben etliche EinwohnerInnen mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu kämpfen. Das versuchen manche mit rechtsradikalen Allmachtsfantasien zu kompensieren. Die Roma werden schnell zur Projektionsfläche.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der rassistische Hass entlädt sich ab Samstag, den 22. August. Er trifft Roma ebenso wie VietnamesInnen, die in einem neben der Aufnahmestelle gelegenen Wohnheim für ehemalige VertragsarbeiterInnen leben. Die Medien haben damals ihren Anteil an der antiziganistischen Hetze, die die Ausschreitungen anfacht. Einen Tag vor Beginn des Pogroms zitiert die Ostsee-Zeitung Jugendliche, die sagen, dass sie mit den VietnamesInnen gut leben könnten, die Roma aber wolle man: „aufklatschen“.
Nach dem Pogrom wird den BewohnerInnen in der direkten Nachbarschaft ein Monat mietfreies Wohnen angeboten. Die Opfer hingegen erhalten keine Hilfe – und keine Entschädigung. Im Gegenteil: Erst werden sie landesweit auf Notunterkünfte verteilt, dann werden ihre Asylgesuche abgelehnt. Unter anderem den Roma gilt die Verschärfung des Asylrechts, das einst als Konsequenz des Nationalsozialismus ins Grundgesetz aufgenommen worden war.
Nur wenige Wochen nach dem Pogrom sind sich Unionsparteien, FDP und SPD einig: Damit eine solche Katastrophe wie in Rostock-Lichtenhagen nie wieder passiert, schränkte man das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung stark ein. Und anders als die VietnamesInnen, die sich in einem Verein organisieren und sich später ein Bleiberecht erkämpfen, werden Roma zur Ausreise aufgefordert. Sie verschwinden erst aus Rostock, dann aus Deutschland und schließlich weiß kaum noch jemand, dass auch sie in jenen Tagen attackiert worden sind.
Nun, 30 Jahre nach dem Pogrom, machen wir uns auf die Suche nach ihnen und reisen nach Rumänien. Wir wollen ihre Perspektive auf die damaligen Ereignisse zeigen. Wir fragen uns: Was haben die Angriffe von Rostock-Lichtenhagen mit ihnen gemacht? Welche Konsequenzen fordern sie nach so langer Zeit, in der kaum jemand nach ihnen fragte? Um Zeitzeugen zu finden, schreiben wir Dutzende Selbstorganisationen an, fragen MigrationsrechtsanwältInnen, SozialarbeiterInnen und AktivistInnen. Schließlich bekommen wir vom Zentralrat der Sinti und Roma einen Kontakt zu Izabela Tiberiade.
An einem Abend Ende Juli steht sie in einem Sommerkleid in der südwestrumänischen Stadt Craiova vor einem Imbiss und winkt uns zu sich herüber. Sie hat bereits angekündigt, dass ihr Vater sie begleiten wird. Craiova ist deshalb ein guter Ort für unsere Suche, weil damals viele Roma von dort nach Rostock gegangen sind. Heute sind von den fast 300.000 EinwohnerInnen offiziell 10.000 Roma, Schätzungen zufolge sind es aber wesentlich mehr. Im Stadtzentrum mischt sich neoklassizistische mit moderner Architektur, in den Seitenstraßen verknoten sich die oberirdischen Stromkabel zu Knäueln. Die meisten Roma wohnen am Rande der Stadt, in einem Viertel namens Fața Luncii.
Izabela Tiberiade ist gerade zu Besuch bei ihrer Familie. Sie wohnt in Schweden, hat dort ihr juristisches Studium absolviert, ihr Schwerpunkt sind Menschenrechte. Bei der Roma-Organisation „Dikh He Na Bister“ (Sieh und vergiss nicht) engagiert sie sich für das Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Im Vorlauf des Jahrestages von Rostock-Lichtenhagen beschäftigen sie aber auch die rassistischen Angriffe der unmittelbaren Nachwendezeit.
Izabela Tiberiade spricht fließend Englisch und lächelt viel. Das Gesicht ihres Vaters Romeo Tiberiade bleibt erst mal angespannt. Man merkt, dass er sich auch seiner Tochter wegen auf das Treffen eingelassen hat. Während wir uns unterhalten, drückt er seine Handflächen flach auf den Tisch. Nur manchmal nippt er an seinem Wasser, wobei er den Blick nicht von uns lässt.
Er will wissen, warum er uns helfen soll. Für ihn ist es ein Politikum, mit wem er spricht. Denn Romeo Tiberiade ist Kreisvorsitzender der sozialdemokratischen Roma-Partei und städtischer Beauftragter der Roma-Minderheit und als solcher ein bekannter Mann in der Stadt. „Ich habe schon zu viel an stereotyper Berichterstattung über Roma erlebt“, sagt er. Fernsehteams, die durch Roma-Viertel streifen und dann ausschließlich über organisierte Kriminalität berichten würden, nennt er als Beispiel, und zählt weitere auf.
Erst, als wir ihm davon berichten, dass auch die Co-Autorin dieses Textes vor 30 Jahren als Antifaschistin nach Rostock-Lichtenhagen gefahren ist, entspannt sich sein Gesicht. „Du warst auch in den Flammen“, sagt er und meint es im übertragenen Sinne.
Am nächsten Tag bringt Izabela Tiberiade uns in sein Büro, er hat uns eingeladen. Es liegt in einem imposanten Kuppelgebäude am anderen Ende der Stadt, in das die öffentliche Verwaltung übergangsweise eingezogen ist. Romeo Tiberiade sitzt an einem schweren Holzschreibtisch, hinter ihm eine passende Vitrine. Daneben die rumänische, die Roma- und die Europa-Flagge. An der Wand hängen fünf Ölgemälde. Sie zeigen Frauen in traditionellen Blusen und Röcken, eine mit einem Kopftuch, eine mit einer Geige. „Die Familie“, stellt er vor.
Und diese, seine Familie hatte in den 1990er Jahren, als Rumänien noch kein Mitgliedsstaat der EU war, genügend Gründe, um als politisch Verfolgte nach Deutschland zu fliehen, wie im Verlauf des Gesprächs deutlich wird. „Wir wurden ethnisch verfolgt“, sagt Romeo Tiberiade, und spielt damit auf die Zeit nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes an, als es wegen der großen sozialen Unsicherheit besonders schwierig für Roma in Rumänien wurde.
„Immer wenn wir unsere Rechte einforderten, führte die Polizei Razzien durch. Sie verhaftete uns. Sie schlug uns. Sie nahm alle mit“, erinnert er sich. Auch andere Quellen belegen, dass es in jener Zeit in Rumänien viele staatlich geduldete Attacken und Übergriffe auf Roma gab.
Romeo Tiberiade erzählt von einer Flucht mit mehreren Anläufen. Mit anderen Familien, Kindern und Großeltern ging es wochenlang per Zug und zu Fuß über Berge und Felder. Schon damals war er jemand, der die Dinge in die Hand nahm. „Alle folgten mir, weil ich Karten lesen konnte“, sagt er. Dann, als sie es fast geschafft hatten, seien sie in Österreich aus einem Zug geholt und zurückgeschickt worden. Daraufhin änderten er und seine BegleiterInnen die Route und gelangten von Budapest nach Prag und anschließend über die deutsche Grenze. Dort strandeten sie in einem Dorf – und wurden erneut zurückgeschickt.
„Wir schliefen in Parks auf Pappen, damit die Kinder nicht frieren“, erinnert er sich. Wieder in Prag hätten sie schließlich Menschen getroffen, die anderen über die Grenze helfen. Diese sagten ihnen, sie sollten nach Rostock gehen.
Doch der Antiziganismus, dem die Familien entfliehen wollten, holte sie in Rostock wieder ein. „Zuerst waren wir aufgeregt und glücklich“, sagt Romeo Tiberiade. Deutschland stand für ihn für Freiheit, Würde und Respekt. Außerdem seien die ersten Deutschen, auf die sie getroffen seien, sehr nett gewesen. „Ab der Grenze begrüßten die einfachen Menschen uns. Sie gaben uns Lebensmittel, Decken und Essen. Sie wussten, wir kommen aus Rumänien und fliehen aus dem Kommunismus. Der Anfang war voller Hoffnung.“
Doch in der Zentralen Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen sei das Personal unfreundlich gewesen. „Im Gebäude war es sehr dreckig, in den Zimmern und draußen auch.“ Mit seiner Frau, den beiden Kindern und seinen Eltern schlief er in einem kleinen Raum. Jeden Tag kamen neue Leute in Rostock an, die dann irgendwann aus Platzgründen draußen übernachten mussten. „Nur wir haben ihnen geholfen. Die Decken und das Essen kamen von uns. Manchmal nahmen wir kleine Kinder mit rein, damit sie drinnen schlafen konnten.“
Romeo Tiberiade, Zeitzeuge und städtischer Roma-Beauftragter
Dann spricht Romeo Tiberiade von den Angriffen: „Es begann tagsüber. Neonazis warfen Molotowcocktails. Das Gebäude war hoch, sie konnten es nicht komplett in Brand stecken. Doch bis zur dritten Etage, wo die meisten von uns wohnten, kamen die Flammen sehr schnell. Ich erinnere mich an Schreie, ängstliche Kinder und Verzweiflung auf dem Flur. Es gab nur einen Ausgang und großes Gedrängel an der Tür. Wegen des Qualms war es schwer, etwas zu sehen. Wir packten alle an und versuchten, unsere Familien und alle, die uns begegneten, zu retten. Später führte die Polizei uns in einen Park, wo wir blieben und sie auf uns aufpasste. Wir wurden weiter mit Steinen attackiert. Die Angreifer hatten keine Angst vor der Polizei.“
Izabela Tiberiade ist zwölf Jahre alt, als sie das erste Mal von den Angriffen auf ihre Eltern hört. Im Fernsehen rettet damals ein Held Menschen aus einem brennenden Haus, als ihre Eltern auf einmal davon sprechen, dass es sie an Rostock erinnere. „Ich habe erst nicht verstanden, wovon sie reden“, sagt sie. Erst viel später habe sie realisiert, dass auch ihre Eltern AsylbewerberInnen waren. Insgesamt zwei Jahre bleibt die Familie in Deutschland. Nachdem ihr Asylgesuch abgelehnt wird, geht sie wieder zurück nach Rumänien.
Nach seinen Schilderungen wirkt Romeo gelöster, als habe er eine Prüfung abgelegt. Unsere Nachfragen fühlten sich an wie ein Verhör durch die Polizei, sagt er. „Alle Roma kennen dieses Gefühl“, bestätigt seine Tochter, die alles mitangehört und übersetzt hat. Wir schlagen vor, die Rollen zu tauschen, damit er mal Fragen stellen kann.
Warum die Polizei nicht eingegriffen habe, will Romeo Tiberiade nun von uns wissen. „Ich verstehe nicht, warum es keine Wiedergutmachung gibt für die Menschen, die in den Flammen in Rostock waren.“
„Natürlich hat Deutschland nicht genug getan“, sagt auch Izabela Tiberiade. Im Gegensatz zu ihrem Vater zweifelt sie aber daran, dass eine finanzielle Entschädigung etwas bringt. „Was könnte das Erlittene schon wiedergutmachen?“, fragt sie. Vielmehr fordert sie Anerkennung der Roma als Betroffene, mehr Sichtbarkeit und ein Bleiberecht für die Opfer von rechter Gewalt in Deutschland.
Das Leben der Roma ist nach Rostock-Lichtenhagen weitergegangen, aber es hat sie verändert. Auch Izabela Tiberiades Vater. Weniger die lebensbedrohliche Gefahr als die ganze Fluchterfahrung: Dass Roma rassistischer Diskriminierung nicht einfach durch Migration entkommen können. „Für meinen Vater war diese Erkenntnis wie eine Offenbarung“, erzählt die Tochter. Es sei der Grund, warum er Jura studiert habe, gegen alle Widerstände aus der Mehrheitsgesellschaft, aber auch aus der Roma-Community, weil er gleichzeitig seine Familie ernähren musste und dieser Weg nicht üblich sei.
Izabela Tiberiade, Juristin und Roma-Aktivistin
Ihr Vater habe sich hochgearbeitet, sei Politiker geworden, um die Situation der Roma zu verbessern. Bildung sei für ihn bis heute das Allerwichtigste und das sei auch der Grund, warum er sie dabei unterstützt habe, allein nach Schweden zu gehen und dort zu studieren. „Er ist mein Vorbild“, sagt sie.
Am Ende sei Rostock-Lichtenhagen aber nur eine weitere Verletzung in einer Konstante aus Diskriminerungserfahrungen. „Der Antiziganismus betrifft uns täglich“, sagt Izabela Tiberiade. Noch heute leben Roma oft in Armut, werden in Cafés abgewiesen – nur wegen ihrer Kleidung. Nicht Rostock allein, sondern das Wissen um die Tradition des rassistischen Hasses bestimme jede Lebensentscheidung – ob direkt oder indirekt. Die junge Frau spricht von einem „intergenerationellen Trauma“, einer unbewussten Übertragung unverarbeiteter Belastungen auf die Kinder.
Bei Holocaust-Überlebenden wurde die transgenerationale Weitergabe eines Traumas über mehrere Generationen beobachtet, WissenschaftlerInnen diskutieren dies in den USA auch im Bezug auf die Sklaverei. Bei der Verfolgungsgeschichte der Roma in Craiova kommt beides zusammen: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Roma hier als Sklaven gehalten. Sie waren rechtlos, wurden misshandelt und wie Waren verkauft.
Romeo Tiberiade hat auch seine eigene Familiengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet. Bis zu 30.000 Roma wurden 1942 in Lager nach Transnistrien deportiert. Auch seine Großeltern und seine Eltern waren dabei und erlebten unmenschliches Leid. Schon vor Jahren habe er deshalb begonnen, die Zeugenaussagen der Überlebenden auf Videos festzuhalten. Er arbeitet an einem Dokumentarfilm. Der Mangel an Repräsentation der Roma in den Geschichtsbüchern habe ihn dazu motiviert.
Seit Romeo Tiberiade für Jugendliche eine Bildungsreise nach Auschwitz organisierte und auch Izabela Tiberiade dabei war, engagiert sie sich selbst in der Erinnerungsarbeit. So wie ihr Vater mit den Überlebenden der NS-Zeit führt sie heute Interviews mit Zeitzeugen aus Rostock-Lichtenhagen und erforscht die Familiengeschichte. Einen Abzug des Fotos, das ihre Mutter und Geschwister bei der Evakuierung in Rostock zeigt, habe ein Freund aus Deutschland ihrem Vater vor ein paar Jahren geschickt. „Meine Mutter sagte, sie sehe aus wie eine Bettlerin und hat das Foto irgendwann zerrissen.“
Izabela Tiberiades Mutter, Ioana Miclescu, hat bis jetzt noch nie öffentlich über die Ereignisse im August 1992 gesprochen. Wir fragen, ob wir sie kennenlernen dürfen. Nach einigem Hin und Her stimmt sie zu. Ioana Miclescu und Romeo Tiberiade wohnen in einem Haus mit Carport in einem ruhigen Wohngebiet unweit des Zentrums. Im Garten ist es schattig, aber schwül. Ioana Miclescu kommt aus der Hintertür. Sie trägt ein modisches Oberteil, Ohrhänger und ein Tuch um Kopf und Schultern, das sie für das Gespräch abnimmt. „Nur ein paar Minuten“, sagt sie. Wir merken, wie unwohl sie sich fühlt.
Die Hitze erhöht die Anspannung. Schweiß läuft uns allen von der Stirn. Sie denke nicht oft an diese Zeit zurück, sagt Ioana Miclescu. Es sei hart gewesen, „aber auch hoffnungsvoll, weil wir fliehen konnten“. Wir zeigen ihr die Aufnahme von ihr aus Rostock. „Eine traurige Erinnerung“, sagt sie. Diese löse Stress in ihr aus, sie bekomme Panik. „Wenn ich mich auf dem Foto sehe, möchte ich weinen. Das war Terror, ich hatte Angst. Ich dachte, ich würde nicht entkommen.“ Sie sei damals gerade einmal 22 Jahre alt gewesen.
Ioana Miclescu sagt: Sie verurteile Deutschland nicht, obwohl die Angriffe alles verändert hätten. Die PolitikerInnen und die Polizei hätten es verhindern können. Und sie hätten im Nachgang dabei helfen können, das Trauma zu bewältigen, mit ärztlicher und moralischer Unterstützung. „Sie haben uns nicht als Opfer anerkannt“, sagt sie.
Das Gespräch wühlt sie sichtlich auf. Wir wollen noch Fotos mit ihr machen. „Das macht ihr Freude“, sagt Izabela Tiberiade. Und tatsächlich: Als Ioana Miclescu für die Kamera posiert, ist es einer der wenigen gelösten Momente unserer Begegnung. In diesem Moment in ihrem Garten ist sie kein Opfer, sondern steht aufrecht da und schaut mit festem Blick in die Kamera.
Vielleicht ist es die Situation mit ihrer Mutter, die die Tochter dazu ermutigt, noch mehr in die Vergangenheit ihrer Familie einzutauchen. Sie nimmt uns mit zu ihrem Großonkel. Er war auch in Rostock-Lichtenhagen und lebt bis heute in einer kleinen Gasse nur ein paar Straßen weiter. Auf dem Weg zu ihm wechselt der Straßenbelag von Asphalt zu Kopfsteinpflaster und dann zu Lehmboden. Viele Häuser in der Gasse sind nur aus rohen Backsteinen. Unter einem Baum sitzen mehrere junge Männer mit nackten Oberkörpern, an einem Holztisch ein älterer Mann mit Hut.
Ioana Miclescu, hat das Pogrom erlebt
Der ältere Mann sei ihr Großonkel, stellt Izabela Tiberiade ihn vor, die anderen seien ihre Cousins. Es dauert ein bisschen, bis alle sie wiedererkennen. Obwohl sie nur ein paar Minuten vom Haus ihrer Eltern entfernt leben, war Izabela Tiberiade seit Jahren nicht mehr da. „Es ist für mich wie eine Reise in eine andere Dimension, in die Vergangenheit“, sagt sie später.
Der Großonkel ist 77 und geht etwas gebeugt. Sein Haus ist voller Fotos von Großeltern und Urgroßeltern. Eine der Aufnahmen sieht etwas jünger aus, sie ist in Farbe, aber sehr verblasst. Drei Männer und eine Frau prosten sich zu, es sieht festlich aus. „Das war in Rostock“, sagt der Onkel. Einige Monate vor den Ausschreitungen.
Auf dem Rückweg stehen wir plötzlich vor einem verrotteten Lattenzaun. Bei dem einstöckigen Haus auf dem verwilderten Grundstück bröckelt der Putz von den Wänden. Davor Schutt und das verrostete Gerippe eines Gartenstuhls. „Das ist das Haus meiner Großeltern“, sagt Izabela. Das Haus, in dem Romeo und Ioana Miclescu und die Kinder nach der Rückkehr aus Deutschland landeten. Sie haben es seit Langem hinter sich gelassen.
Nicht alle hatten die Möglichkeit und die Kraft, sich wie Romeo Tiberiade nach der Rückkehr in Rumänien aus der Armut herauszukämpfen. Izabela Tiberiade will uns noch andere Familien vorstellen, andere Lebensrealitäten von RückkehrerInnen und Überlebenden. Wir fahren zu einem nahegelegenen Markt. So weit das Auge reicht, wird hier auf Wühltischen Secondhandkleidung angeboten. Der Markt wurde eingerichtet, damit ärmere Roma ein bisschen Geld verdienen können. Die Kleider beziehen sie aus einem Großhandel gleich nebenan.
An einem Stand treffen wir auf Leonora und Marian Dumitru. Auch sie waren während der Angriffe im Sonnenblumenhaus. „Die Kinder hatten Panik, auch wir hatten Panik“, sagt Marian Dumitru. Sie seien später nach Rügen umverteilt worden, wo die Anfeindungen weitergingen. Als sie nach Rumänien zurückkehrten, hätten sie weniger gehabt als zuvor. Bis heute müssten sie sich mit dem durchschlagen, was sie auf dem Markt einnehmen.
Leonora Dumitru wird uns am nächsten Tag berichten, dass ihr Mann in der Nacht nach unserem Gespräch nicht schlafen konnte. Die Erinnerungen hätten ihn aufgewühlt. Es sei seltsam, dass nach 30 Jahren jemand nach den Ereignissen frage, sagt sie, und dass sie sich gewünscht hätte, dass dies früher passiert wäre.
Es wäre möglich gewesen, sie ausfindig zu machen
Sie ist nicht die einzige, von der wir erfahren, dass in den vergangenen Jahrzehnten kaum jemand nach den verschwundenen Roma gefragt hat. Jedenfalls niemand von der Stadt Rostock, keine PolitikerInnen, keine VertreterInnen öffentlicher Stellen. Dabei wäre es durchaus möglich gewesen, die Überlebenden aus Rostock-Lichtenhagen auch in Rumänien ausfindig zu machen. In Craiovas Roma-Viertel Fața Luncii muss man dazu nur durch die Straßen gehen.
Fața Luncii liegt im Westen der Stadt, im Schatten eines riesigen Fußballstadions, dem Ion-Oblemenco-Stadion. Büsche und Bäume ragen aus den Vorgärten über die Wege. Einfamilienhäuser stehen neben prunkvollen Villen und sehr einfachen windschiefen Hütten. Mit einem Stapel Fotos vom August 1992 sprechen wir Leute auf der Straße an. Die ersten können uns nicht weiterhelfen. Sie sind zu jung. In einer Seitenstraße sitzt eine ältere Frau auf einer Bank. Ihr Alter könnte passen. „Den Mann kenne ich“, sagt sie und deutet auf eine der Aufnahmen, die mehrere Familien bei der Evakuierung nach den Angriffen zeigt. „Ich war auch in Rostock“, sagt sie dann unvermittelt. „Mit meinem Mann.“
Nur ein paar Meter weiter wohnt Velcu Vasile Nazdravan. Er trägt ein blaues kurzärmliges Hemd und setzt, bevor er mit uns redet, seinen Hut auf. Seit 1971 schreibe er Tagebücher und habe die Entwicklung des Roma-Viertels festgehalten, erzählt er. Aus Craiova seien 1992 ungefähr 40 bis 50 Familien in Rostock gewesen. Auch er selbst. Auf unseren Fotos erkennt er fast jedes zweite Gesicht. „Das ist die Nichte meiner Frau. Sie ist vor drei Jahren gestorben“, sagt er. Dann geht es Schlag auf Schlag: „Diese Frau kenne ich, sie lebt in Craiova, aber sie ist krank. Diese Frau lebt nicht mehr, da ist sie mit ihrer Enkelin. Diese hat das Land verlassen.“
Beim Gedenken geht es schleppend voran
Derweil bereitet man sich in Rostock-Lichtenhagen auf die Gedenkfeier vor, die dieses Jahr zum ersten Mal auch mit Opfern aus der Roma-Community stattfinden soll. Tatsächlich brauchte es fast zwei Jahrzehnte, bis auf Druck der VietnamesInnen 2012 erstmals vietnamesische Opfer zum offiziellen Gedenken eingeladen wurden, auch wenn sie keine Rede halten durften. Dass es weitere Jahre benötigt, bis auch die betroffenen Roma berücksichtigt werden, ist nur schwer zu verstehen.
Direkt nach dem Pogrom waren zumindest AktivistInnen für kurze Zeit sensibler. Im Oktober 1992 besetzte eine Gruppe aus Juden und Roma um die deutsch-französischen Nazi-Jäger Beate und Serge Klarsfeld die Fraktionsräume der CDU im Rostocker Rathaus. Draußen brachten sie eine Gedenktafel an, die auf die Kontinuitäten der Verfolgung von Roma und Juden seit dem Nationalsozialismus verwies – und bald entfernt wurde. 2012 brachten AntifaschistInnen dann ein Duplikat an, das seitdem geduldet wird.
Erst 2017 wurden in Rostock dann fünf Gedenkstelen aus Marmor in der Stadt installiert. Sie erinnern an die Angreifer aus Lichtenhagen, an die Rolle der Politik, Polizei, Medien und an den Widerstand der antifaschistischen Jugendlichen. Eine sechste Stele symbolisiert die Empathie mit den Betroffenen. Sie wurde allerdings erst 2018 auf zivilgesellschaftliche Initiative hin errichtet. Auch hier wären die Opfer beim Gedenken beinahe vergessen worden.
#SayTheirNames führte zum Umdenken
Doch hat die Erinnerungskultur eine Entwicklung durchgemacht. Die Verarbeitung der Morde des NSU-Netzwerks, die Kampagne #SayTheirNames nach dem Terroranschlag von Hanau im Februar 2020 – all das führt dazu, dass es weniger möglich wurde, die Opfer rechter Gewalt zu übergehen. Zudem bemühen sich die MitarbeiterInnen des Dokumentationszentrums „Lichtenhagen im Gedächtnis“, das die Stadt Rostock seit 2015 fördert, stark darum, Roma als Zeitzeugen sichtbarer zu machen.
Im Interview spricht Johann Henningsen, Historiker im Dokumentationszentrum, von einer „fast 30-jährigen Ignoranz gegenüber einer der Hauptbetroffenengruppe des Pogroms“, die nur von wenigen AktivistInnen aufgebrochen worden sei. „Die Stimmen und Perspektiven der betroffenen Geflüchteten wurden in der zeitgenössischen Berichterstattung unsichtbar gemacht. Diese Leerstelle ist auch ein Ausdruck der Kontinuität von rassistischen Machtverhältnissen, strukturellem Rassismus der weißen Zivilgesellschaft und der Verwaltung.“
Er und seine KollegInnen arbeiteten dazu in einem eigenen Forschungsprojekt, hätten in Kooperation mit dem Roma Center Göttingen Interviews in Rumänien führen lassen und in diesem Rahmen auch Kontakt zur Familie Tiberiade aufgenommen.
Dies ist auch der Grund, warum Romeo und Izabela Tiberiade in diesem Jahr zur Gedenkfeier nach Rostock eingeladen wurden. Romeo Tiberiade wird krank, aber Izabela Tiberiade kommt.
Späte Anerkennung
Am Donnerstag steht sie vor dem Sonnenblumenhaus, gemeinsam mit Nguyen Do Thinh, der sich damals aus dem Wohnheim rettete, Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der begegnet den Opfern mit Respekt, sucht das persönliche Gespräch auch mit Izabela Tiberiade. Für ihren Vater bittet sie um ein Foto.
Bei der anschließenden Gedenkstunde im Rathaus spricht Steinmeier von einer Mitverantwortung der Politik für das Pogrom und einer „Katastrophe mit Ansage“. Dann betritt Izabela Tiberiade das Podium. Steinmeier sitzt in der ersten Reihe und hört ihr zu. Sie verweist auf die Kontinuität von Rassismus, darauf, wie schwer die Erinnerung für ihre Eltern bis heute ist und dass es keine Entschädigung gab. „Ich habe gemerkt, wie groß meine Verantwortung ist, meinem Volk eine Stimme zu geben, die dreißig Jahre nicht hörbar war“, sagt sie.
Die Einladung trage zur Heilung bei. Die Eindrücke in der Stadt hätten sie überrascht: „Aus den Erzählungen habe ich mir vorgestellt, dass Rostock sehr dunkel sein muss.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag