30 Jahre Einheit in Oberschwaben: Trommeln für alle!

In Oberschwaben werden Frauen von Festtraditionen ausgeschlossen. Ein Zustand, der nicht mehr einfach so hingenommen wird.

Eine gezeichnete Frau mit Trommel in Tracht

Als Besonderheit gelten die Trommlergruppen Foto: Illustration Michael Szyszka

Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen ist oft unsichtbar – weil sie auf Gehaltslisten oder hinter verschlossenen Wohnungstüren stattfindet. In Oberschwaben wird sie aber jedes Jahr zu hohen Festtagen mit Stolz auf die Straße getragen. Die Traditionen, von denen Frauen ausgeschlossen sind, geraten jetzt aber zunehmend unter Reformdruck. Zum Unverständnis all jener, die Tradition für ein Argument gegen Gleichberechtigung halten.

Zum Ende des Schuljahres feiert die Stadt Ravensburg, eine halbe Autostunde vom Bodensee entfernt und bekannt für den Spieleverlag mit der blauen Ecke als Markenzeichen, mindestens seit dem 17. Jahrhundert ihr Rutenfest. Höhepunkt ist ein Festzug durch die mittelalterliche Altstadt. Die Kinder tragen Kostüme, die die einstigen Handwerkszünfte darstellen.

Auch an die Historie der freien Reichsstadt wird erinnert, die Heimat reicher Patrizierfamilien und einer Handelsgesellschaft, die früh international Geschäfte machte. Als Besonderheit gelten die Trommlergruppen, die den Festzug begleiten und auch bei vielen privaten Feiern „antrommeln“.

Trommlerkorps der Gymnasien, Landsknechte, Schützentrommler. So heißen die traditionsreichen Gruppen. Vorbehalten sind sie jungen Männern. Beim Trommlerkorps der Gymnasien, das 1865 das erste Mal erwähnt wurde, werden jährlich 24 von 34 Trommlern neu gewählt – ausschließlich von ihren männlichen Mitschülern der oberen Jahrgangsstufen. Auch die Gruppenleiter werden durch eine Wahl für die prestigeversprechende Aufgabe bestimmt. Mädchen dürfen nicht mittrommeln, sie können darauf warten, ob einer der Trommler sie als „Trommlerbraut“ aussucht, die ihn durch die Festtage begleiten darf, während die ganze Stadt ihre „Buben“ feiert. Nur eine einzige Gruppe, die Rutentrommler, lässt Mädchen zu.

Im Sommer 2019 meldeten sich zwei ehemalige Mitglieder der Landsknechte, deren Gruppe mit Renaissance-Kostümen als Trommler, Pfeifer und Armbrustschützen gekleidet ist, über die Lokalzeitung zu Wort: Mit dem Abstand zu ihrer Heimatstadt, den sie durchs Studium an anderen Orten gewonnen hatten, kritisierten sie die exklusiv männliche Tradition und traten eine Welle der Entrüstung los. Die beiden jungen Männer bezeichneten die Trommlergruppen als „Seilschaften“ und „elitäre Verbindungen, die Frauen diskriminieren“. Dabei seien das doch schulische Veranstaltungen (was der damals geschäftsführende Schulleiter wiederum zurückwies), bei denen niemand wegen seines Geschlechts ausgeschlossen werden dürfe. „Es käme jetzt auch keiner auf die Idee zu sagen, Mädchen dürfen nicht in den Matheunterricht“, sagte einer der beiden Kritiker.

Für ihre Forderung, mit der Tradition zu brechen, sei ihnen in einer Ravensburger Altstadtkneipe mit Prügel gedroht worden, so wurde es ihnen berichtet – befreundete Trommler hätten ihnen daraufhin Schutz und beim Fest ihr wachsames Auge angeboten. Die Traditionalist*innen beschimpften sie als Verräter und Profilneurotiker. Lokalpolitiker*innen hätten ihnen zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht um das Thema kümmern wollten, an dem man sich so leicht die Finger verbrennen kann.

Der Konflikt spielt an einer gesellschaftlichen Bruchlinie, die sich nicht nur durch Oberschwaben zieht. Wie schafft es eine Gesellschaft, identitätsstiftende Momente zu schaffen, die alle einschließen? Im Jahr 2020 sollte es dabei längst nicht mehr nur um die Beteiligungsmöglichkeit für Frauen gehen, sondern um die größtmögliche Offenheit für alle, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, sexueller Identität und Behinderung. Doch manchmal scheint es, als ob an Althergebrachtem noch verbissener festgehalten wird, je mehr sich gesellschaftlich bewegt. Als ob die Traditionalist*innen hofften, die Forderungen nach Gleichberechtigung würden wieder verschwinden, wenn sie sie nur lange genug ignorierten.

Das Rutenfest ist für viele Ravensburger*innen Anlass zur Heimkehr, selbst wenn sie inzwischen in Übersee leben. Das Fest – eine Konstante in jedem Jahr, egal, was in der Welt außerhalb Oberschwabens los ist. Und das schon seit Generationen. Ein ehemaliger Landsknecht berichtete von vehementer Ablehnung einer Öffnung besonders bei älteren Männern und einigen Mitgliedern der Trommlergruppen. Für sie ende die Diskussion mit dem Satz „Das ist Tradition“, als sei das ein Argument. Andere zeigten sich gesprächsbereit, sagt er: „Plötzlich kam von unterschiedlichen Seiten die Idee, doch eine eigene Trommlergruppe für Mädchen zu gründen. Damit wollen wohl einige das leidige Thema vom Tisch bekommen.“

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

In Ravensburg prallt Lokaltradition auf gesellschaftliche Modernisierung. Für zeitgemäße Weiterentwicklung muss die Kontinuität des Festes keineswegs gebrochen werden. Wenn sich dessen Wert allein darauf gründet, dass Frauen ausgeschlossen werden, wäre das nach Jahrhunderten des Rutenfests ein schwaches Fundament. Und wer die Veränderung jetzt vorantreibt, schreibt Stadtgeschichte weiter, die irgendwann etwas über die gesellschaftlichen Debatten in den 2020er-Jahren erzählen wird.

Tradition und Veränderung scheinen in den Augen einiger Ravensburger natürliche Gegenspieler zu sein. Veränderung ist nicht Gefahr, sondern Chance und manchmal auch Pflicht, wenn der Status quo destruktive Botschaften für junge Menschen enthält. Den Mädchen werde an verschiedener Stelle beim Rutenfest signalisiert: „Ihr dürft zwar mitmachen, aber ihr seid weniger wert“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Ravensburg, Eva-Maria Komprecht. Das nähmen die Mädchen durchaus wahr. Und als „Trommlerbräute“ würde ihnen lediglich eine dienende und schmückende Funktion zugebilligt.

Eine Öffnung der Trommlertradition für Mädchen wird vom Festveranstalter, der Rutenfestkommission, abgelehnt. „Gruppierungen, die sich zum Teil auf eine mehr als 100 Jahre andauernde Tradition berufen können, praktisch zwingen zu wollen Frauen aufzunehmen, verbietet sich von selbst und ist insbesondere in keiner Weise vom Grundgesetz gefordert“, heißt es in einer Stellungnahme des Vorsitzenden Anfang 2020.

Die Person: Lena Müssigmann, 34

Job:Lokalreporterin in Ravensburg

Zeitung: Schwäbische Zeitung

Erscheinungsort: Südöstliches Baden-Württemberg

Auflage: Rund 160.000

Der größte Coup Ihrer Zeitung: Einer Kollegin ist es gelungen, eine Jesidin im Nordirak zu interviewen, die als 18-Jährige vom IS verschleppt worden war und von grausamen viereinhalb Jahren in Gefangenschaft erzählt.

Region: Kühe auf grünen Hügeln, Barockkirchen, Nähe zum Bodensee und den Alpen, Wohlstand, hohe Mieten, Bier, Blasmusik

Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? In die Berge, im Sommer zum Biken und Wandern, im Winter zum Ski- und Snowboardfahren

Autokennzeichen: RV – und neuerdings die für Retro-Fans wieder eingeführten Altkennzeichen WG, ÜB und SLG

„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann “

... frage ich mich, welche gesellschaftliche Zäsur Corona im Rückblick darstellen wird.

Der schlug außerdem vor, Mädchen könnten „selbstverständlich jederzeit ein eigenes Trommlerkorps gründen“, sollte dies „wider Erwarten“ gewünscht werden. So wird die Verantwortung abgeschoben. Eine Gymnasiastin, die das vor zehn Jahren versuchte, berichtet von Mobbing, Ausgrenzung und Abkehr ihrer Freundinnen, die mit der Tradition aufgewachsen waren. Die Gleichstellungsbeauftragte fordert nun, dass der Wandel von Erwachsenen angestoßen werden müsse. Das war im Januar 2020. Wann dieser Anstoß wohl kommt und wer sich wagt, ihn zu geben?

Dass Tradition keine Rechtfertigung für ewigen Stillstand ist, haben kürzlich ausgewiesene Expert*innen deutlich gemacht, nachdem sich Ravensburgs Nachbarstadt Weingarten ebenfalls mit einer ausschließlich Männern vorbehaltenen Veranstaltung für den Titel des Immateriellen Kulturerbes der Unesco beworben hat. Zu diesem Kulturerbe zählen etwa der saisonale Viehwandertrieb im Mittelmeerraum und in den Alpen, die Parfümherstellung im französischen Pays de Grasse oder die Reggae-Musik von Jamaika.

Den Weingartenern geht es um den Blutritt, Europas wohl größte Reiterprozession, bei der eine Reliquie – angeblich ein Tropfen Blut von Jesus mit Erde vermischt – von einem Geistlichen, dem Dekan der Stadt, durch die Flur getragen wird, begleitet von mehr als 2.000 männlichen Reitern. Einst kamen zu diesem Anlass am Freitag nach Christi Himmelfahrt Bauern aus dem Umland mit ihren Pferden nach Weingarten, um für eine reiche Ernte und gesunde Tiere zu beten. Doch längst wird der Blutritt von einem Verein organisiert, der Frauen in seinen Reihen zulässt. Aber mitreiten dürfen sie nicht. Obwohl der Nachwuchs fehlt und die Teilnehmerzahlen sinken.

In Weingarten war man aufgrund diverser Vorgespräche und Empfehlungsschreiben von Historikern davon ausgegangen, gute Chancen auf den Kulturerbetitel zu haben, die Stadt erhoffte sich schon, die Auszeichnung für ihr Stadtmarketing nutzen zu können. Doch dann kam die Absage, deren Begründung viele überzeugte Blutreiter vor den Kopf gestoßen haben dürfte.

Das Expertenkomitee für Immaterielles Kulturerbe der Deutschen Unesco-Kommission und die Kultusministerkonferenz schrieben, bei der Prüfung solcher Bewerbungen werde Wert auf eine offene, inklusive und partizipative Traditionspflege sowie auf Wandlungs- und Weiterentwicklungsfähigkeit gelegt. Die Experten „konnten (…) nicht ausmachen, warum Frauen auch heutzutage prinzipiell von dem Ritt ausgeschlossen bleiben“.

Jenseits der schwäbisch-bayerischen Grenze landete ein Fall, in dem es um traditionell begründete Ungleichbehandlung geht, schon vor Gericht. Jahrhundertelang war das Ausfischen des Stadtbaches am Memminger Fischertag Männern vorbehalten, das sollte nach dem Willen des ausrichtenden Vereins auch so bleiben.

Eine Tierärztin fühlte sich diskriminiert und klagte, das örtliche Amtsgericht gab ihr recht: Tradition sei kein zulässiger Grund für Diskriminierung, urteilte die Richterin. Der Verein sei – auch wegen seiner Machtstellung in der Stadt – an den Gleichheitsgrundsatz gebunden. Der Veranstalter hatte angekündigt, das Urteil in nächster Instanz überprüfen zu lassen. Beim Landgericht Memmingen ist die Berufung noch nicht eingegangen, der Verein scheint noch zu erwägen, ob er den Schritt gehen soll.

In diesem Jahr mussten wegen Corona Fischertag, Blutritt und Rutenfest in ihrer bisherigen Form ausfallen – zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Ein Sommer, in dem – auch in Oberschwaben – mal nicht alles so war wie immer.

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