30 Jahre Dayton-Abkommen: „Schlimmer als die physische Belagerung“
Mersiha Beširović leitet die Handelsgewerkschaft von Bosnien und Herzegowina. 30 Jahre nach Kriegsende spricht sie von einem politischen Teufelskreis.
taz: Frau Beširović, als der Bosnienkrieg vor 30 Jahren endete, waren Sie 21 Jahre alt. Was waren Ihre Hoffnungen damals – und welche haben sich erfüllt?
Beširović: Ich war damals schon verheiratet und hatte ein einjähriges Kind. Und natürlich war ich voller Hoffnung. Weil ich dachte, unser Leid hätte endlich ein Ende gefunden und das Töten. In meinem Inneren bin ich noch immer sehr optimistisch, und das ist das einzige, was mir Kraft gibt, weiterzumachen. Aber wenn ich auf die letzten 30 Jahre zurückblicke, würde ich sagen, dass es heute in Bosnien und Herzegowina schwieriger ist, in Frieden zu leben als während des Krieges. Während des Krieges waren wir alle gleich. Und heute herrscht eine enorme Ungleichheit in allen Bereichen unseres Lebens.
taz: Was meinen Sie damit?
Beširović: Es gibt in unserem Land Menschen, die mächtig sind, weil sie mehr Geld haben. Und die legen die Regeln fest. In Bosnien und Herzegowina sollte es eigentlich nicht um Religion gehen und nicht um Nationalität. Unser nationales Interesse sollte es sein, zu arbeiten und von unserer Arbeit leben zu können. Und wenn die Mehrheit der Menschen das versteht, wird es einfacher.
taz: Da hört man raus, dass sie Gewerkschafterin sind. Das Dayton-Abkommen von 1995 basiert auf ethnisch-religiöser Quotierung in allen Bereichen des Staates und das befördert die Korruption. Sie aber möchten Klassenkampf statt Kulturkampf?
Beširović: Man lässt sich leicht täuschen durch Nationalismus und Religion, lässt sich einreden, man müsse unbedingt die „eigenen Leute“ wählen, damit andere nicht gewinnen – das ist die gängigste Erzählung in Bosnien. Für mich ist diese „Belagerung“ schlimmer als die physische Belagerung Sarajevos.
Ich denke, ich habe das Recht, das zu sagen, weil ich während des gesamten Krieges in Sarajevo war. Man spürt in Bosnien wirklich, dass man in einer Art Teufelskreis gefangen ist. Aber ich hoffe sehr – persönlich und als Gewerkschafterin –, dass wir endlich anfangen, umzudenken und die Menschen davon zu überzeugen, dass ein anständiges Einkommen das wichtigste Interesse im Land ist.
taz: Bosnien und Herzegowina hat durch das Dayton-Abkommen eines der kompliziertesten politischen Systeme der Welt. Was heißt das für die Gewerkschaften?
Beširović: Die größte Herausforderung für die Gewerkschaften ist der Unterschied zwischen der Arbeit im öffentlichen Dienst und im sogenannten privaten Sektor. Die Organisierung im privaten Sektor ist fast unmöglich, weil die Firmen sich dagegen wehren. Aber auch die Tatsache, dass die Gewerkschaftsbewegung sehr stark der politischen Spaltung des Landes folgt, ist ein Problem.
Am 21. 11. 1995 einigten sich in Dayton, US-Bundesstaat Ohio, die kroatischen, serbischen und bosniakischen Parteien des 36 Monate dauernden Bosnienkrieges, am 14. 12. 1995 unterschrieben sie das Abkommen. Aus ihm ging der komplizierte Bundesstaat Bosnien und Herzegowina hervor, bestehend aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska und der Sonderverwaltungszone Brčko. Der Bundestaat bekam nur wenige Kompetenzen, an seine Spitze wurde ein dreiköpfiges, kroatisch-bosniakisch-serbisches Präsidium gesetzt. Der „Hohe Repräsentant“ der internationalen Gemeinschaft sollte eingreifen, wenn Gesetze gegen das Abkommen verstoßen.
Es gibt tatsächlich zwei Gewerkschaftsbünde, einen in der Föderation Bosnien und Herzegowina und einen in der Republika Srpska. In meinem Arbeitsbereich, dem Handel, ist das ein großer Nachteil: Wir sind ein kleines Land und haben einen so kleinen Markt und sind so zersplittert.
taz: Ihre Handelsgewerkschaft macht es anders als die anderen bosnischen Gewerkschaften. Sie möchten in beiden Landesteilen Arbeitnehmer:innen organisieren.
Beširović: Während des Krieges ruhte unsere Arbeit, die ersten neuen Aktionen und Aktivitäten starteten 1996. Wir beschlossen, die Gewerkschaft von Grund auf neu zu organisieren, da der Handel als Sektor damals mit der Privatisierung und dem Übergang der Eigentumsverhältnisse konfrontiert war. Und: Wir wollten Arbeitnehmer:innen im ganzen Land organisieren.
Weil sie für dieselben Firmen arbeiten, dieselben Probleme und Interessen haben und es daher dringend notwendig ist, dass sie in einer gemeinsamen Gewerkschaft organisiert sind. 2009 haben wir eine große Gewerkschaftsreform durchgeführt. Wir haben damals erklärt, dass unsere Gliederung nicht mehr der politischen Gliederung des Landes entsprechen soll. Stattdessen haben wir streng geografische Regionen eingerichtet.
Jede dieser Regionen umfasst sowohl die Republika Srpska als auch die Föderation. Drei unserer zehn Vorstandsmitglieder sind Vertrauensleute aus der Republika Srpska, die dort leben und arbeiten. Wir sind stolz auf diese Besonderheit, aber natürlich ist es in der Realität nicht so einfach, eine solche Gewerkschaft zu führen. Die Politik in diesem Land hat fast alles in ihrer Hand. Insofern hat sie leider auch die Gewerkschaften fest im Griff.
taz: Ihre Gewerkschaft ist auch in anderer Hinsicht besonders: Sie unterstützt die LGBTQI-Community in Bosnien und Herzegowina.
Beširović: Und das wurde stark kritisiert. Wir als Vorstand und ich persönlich haben uns sehr bemüht, unseren Mitgliedern zu erklären, warum das wichtig ist. LGBTQI wird in der bosnischen Gesellschaft allgemein nicht akzeptiert, weil wir eine sehr traditionelle Gesellschaft sind. Wir unterstützen als Gewerkschaft die Pride-Parade in Sarajevo, seit drei Jahren beteiligen wir uns aktiv an den Aktivitäten und Werbematerialien.
Denn wir sind nicht frei, solange es in Bosnien Menschen gibt, die nicht frei sind. Außerdem sind wir der Meinung, dass Gewerkschaften eine größere Rolle spielen müssen, als sich nur auf Gehälter und Arbeitsbedingungen zu konzentrieren. Und das ist etwas, das innerhalb der Gewerkschaftsbewegung nicht sehr gut angenommen wird. Und sonst auch nicht.
Beim letzten Pride-Monat wurden unsere Fenster eingeschlagen, weil wir die LGBTQI-Flagge daran angebracht hatten. Wir wurden in den sozialen Medien direkt bedroht. Aber wie gesagt, ich hatte auch Schwierigkeiten, den Leuten in unserer eigenen Gewerkschaft zu erklären, warum das für uns so wichtig ist. Wir sind fest davon überzeugt, dass es eine Angelegenheit der Gewerkschaft ist. Wir müssen über die Arbeiter:innen sprechen, die gemobbt werden, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, aufgrund ihres Geschlechts. Das ist nichts, was sich von der allgemeinen Gewerkschaftsarbeit trennen lässt.
taz: Insgesamt ist das Image der Gewerkschaften in Bosnien und Herzegowina nicht besonders gut. Woran liegt das?
Beširović: Das größte Hindernis für die Gewerkschaften heutzutage ist die altmodische Denkweise. Sie arbeiten immer noch sehr stark nach den Prinzipien der Gewerkschaften aus der Zeit des ehemaligen Jugoslawien. Gewerkschaftsbosse halten sich für politische Bosse und verhalten sich im Alltag auch so. Sie haben also keinen Kontakt zu den Arbeitnehmer:innen.
taz: Die Bosse stehen also eher auf der Seite des Staates als auf der Seite der Arbeitnehmer:innen?
Beširović: Die Gewerkschaftsbewegung wird von den meisten Arbeitnehmer:innen im privaten Sektor als Organisation wahrgenommen, die nur auf Mitgliedsbeiträge aus ist und nichts leistet. Und ich würde sagen, dieses allgemein sehr schlechte Image der Gewerkschaften ist eine große Belastung für uns alle. Andererseits tun die Gewerkschaften nicht wirklich viel, um das zu ändern.
Abgesehen von der politischen Spaltung sind wir auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gespalten. Es gibt zum Beispiel eine Gewerkschaft, die im Agrarsektor aktiv ist. Das hält sie aber nicht davon ab, unsere Mitglieder abzuwerben. Ich würde sagen, der Hauptgrund für die schlechte Lage der Arbeitnehmer:innenrechte in Bosnien liegt auch in den Gewerkschaften selbst.
taz: Besonders junge Menschen verlassen Bosnien und Herzegowina in Scharen. Was kann man gegen die Abwanderung tun?
Beširović: Es gibt politische Strategien dagegen – aber nur auf dem Papier. Sie sind nur dazu da, die internationale Gemeinschaft zufriedenzustellen und den EU-Beitritt Bosnien und Herzegowinas zu befördern. Junge Menschen werden oft für politische Kampagnen ausgenutzt, aber niemand hat die Absicht, ihnen wirkliche Macht zu geben.
Die jungen Menschen verlassen das Land wegen seiner politischen Instabilität und der wirtschaftlichen Lage. Und sie haben heute eine andere Einstellung zu ihren Arbeitsplätzen. Sie wollen menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Ich spreche oft mit vielen jungen Leuten und sage ihnen immer, dass ich stolz auf ihre Generation bin. Früher haben wir geschwiegen, und das ist das Problem in diesem Land: dass Schweigen der einfachere Weg ist, zu überleben.
Meine Generation, Frauen zwischen 45 und 50, machen Überstunden, selbst wenn sie dafür nicht bezahlt werden, und wehren sich nicht – im Gegensatz zu den jungen Leuten, die sich ihrer Rechte sehr wohl bewusst sind und diese auch einfordern. Heute schweigen die jungen Leute in Bosnien nicht mehr, und darüber bin ich sehr froh. Ich sehe das auch in der weiteren Region, besonders zum Beispiel bei den Protesten in Serbien. Diese junge Stimme brauchen wir dringend, denn sie kann lauter sein als unser Schweigen.
taz: Aber gerade die selbstbewussten Jungen gehen doch.
Beširović: Ja, weil sie die Situation nicht wirklich ändern können. Anstatt die Arbeitsbedingungen, die Löhne und die tägliche Arbeit unserer Arbeitnehmer:innen zu verbessern, um sie in Bosnien zu halten, importieren wir Arbeitskräfte, die nur für ein Visum arbeiten. Das ist etwas, das man auch anderswo beobachtet hat. Aber in Bosnien, wo es eine so dysfunktionale und gesetzlose Gesellschaft gibt, führt das zu einer besonders gefährlichen Situation. Es gibt eben eine wirklich starke, falsche Tendenz des neoliberalen Kapitalismus auf dem Westbalkan.
taz: Jetzt haben wir viel über Probleme gesprochen, aber was gefällt Ihnen denn an Ihrem Land, an Bosnien und Herzegowina?
Beširović: Ich denke, wir sind sehr großzügig, sehr gastfreundlich und auch fleißig. Ich würde sagen, die Menschen aus Bosnien, aber auch aus dem gesamten Westbalkan, sind sehr gute Arbeitskräfte, wenn sie im Ausland sind. Im Ausland arbeiten sie gut zusammen, kooperieren und sind sogar Freunde. Nur in ihrer Heimat nicht.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert