2. Zusammenfassung "Stuttgart 21" Protest: Verletzte im Sekundentakt
12.000 Menschen haben gegen die Fällung von Bäumen im Stuttgarter Schlossgarten demonstriert. Viele von ihnen sagen: Einen solchen Polizeieinsatz haben sie noch nicht erlebt.
STUTTGART taz | Der Mann, schon etwas älter, hat Tränen in den Augen. Er kann es nicht fassen, was er am Donnerstagnachmittag im Stuttgarter Schlossgarten sieht. "Im Sekundentakt werden hier verletzte Leute vorbeigeführt", sagt er. "Ich weiß nicht, was noch Schlimmeres in unserem Land passieren kann. Ich rede viel mit Polizisten, die waren noch nie unfreundlich. Aber wenn man jetzt sieht, wie die hier eingreifen.... Ein Zurück wird es jetzt nicht mehr geben - die Leute sind derart in Rage!"
Der Streit um das Milliardenprojekt "Stuttgart 21" ist endgültig eskaliert. Am Donnerstag rückte die Polizei mit Hundertschaften an und sperrte immer größere Teile des Schlossgartens nahe des Hauptbahnhofes ab. Dabei gingen sie mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen die Demonstranten vor, den Einsatz von Tränengas und von Schlagstöcken hat die Polizei jedoch dementiert.
Die Demonstranten waren seit dem Morgen nach und nach zu Tausenden in den Park gekommen. Voraussichtlich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag soll der erste der insgesamt etwa 280 Bäume gefällt werden. Bis Mitternacht, also bis zum 1. Oktober, ist dies noch wegen der Vegetationszeit gesetzlich verboten.
Aufgrund des massiven Polizeieinsatzes habe es, so schätzen die so genannten aktiven Parkschützer, mehr als 1.000 Menschen mit Augenverletzungen gegeben. Andere hätten Prellungen und Platzwunden erlitten und auch eine Gehirnerschütterung habe es nach Auskunft der Parkschützer gegeben. Die Krankenhäuser in Stuttgart seien überlastet. Vor Ort selbst haben viele freiwillige Helfer die Verletzten versorgt. Insgesamt seien im Schlossgarten etwa 12.000 Demonstranten gewesen.
Gegen 17 Uhr schien sich die Lage vor Ort zumindest ein wenig zu beruhigen. Einige machten den Eindruck, als müssten sie nun erst einmal verdauen, was da gerade passiert war. Traurig und gedankenverloren starrte eine Frau auf den Boden. Andere versuchten im Gespräch mit Demonstranten zu verstehen. "So eine Prügeltruppe, das habe ich noch nicht gesehen", sagte ein Mann. Ein anderer schimpfte: "Das ist eine Provokation auf der ganzen Linie. Diese Arroganz der Politiker!" Immer wieder fiel das Wort "verhältnismäßig", hinter das an diesem Tag zumindest ein dickes Fragezeichen gesetzt wurde.
Die Polizei erklärte, vor dem Einsatz der Wasserwerfer seien die Leute drei- bis viermal gewarnt worden und aufgefordert, den Weg zu verlassen. Und weiter: "Es waren die mildesten Mittel, die man einsetzen konnte", sagte Fritz Erlach von der Presseabteilung über die Wasserwerfer und das Pfefferspray.
Am späten Nachmittag begann die Polizei dann damit, die besetzen Bäume zu räumen. Dafür waren Sondereinsatzkräfte mit Bergsteiger-Ausbildung gekommen, die auf einer Hebebühne in die Baumkronen kamen. Wie die Parkschützer berichteten, hätten sich zwei Demonstranten in Betonröhren einbetonieren lassen, drei Personen seien in Metallrohren um einen Baum angekettet. Sie wollten die vorrückenden Maschinen, die beim Fällen der Bäume zum Einsatz kommen sollen, aufhalten.
Am Donnerstagvormittag hatte es zunächst eine angemeldete Schülerdemonstration unter dem Motto "Bildung statt Stuttgart 21" gegeben. Als die Polizei anrückte, vermischte sich die Demo mit weiteren S21-Gegnern und Baumbesetzern im Schlossgarten. Daraufhin griff die Polizei durch.
Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Winfried Kretschmann, bezeichnete das Vorgehen der Polizei als eine "völlig unangebrachte Demonstration der Macht". "Es gibt keinen erkennbaren Grund, ausgerechnet zum Zeitpunkt einer angemeldeten und genehmigten Schülerdemonstration den Baumfällertrupps mit einem unangemessenen Großeinsatz der Polizei den Weg freizuräumen", sagte Kretschmann. Der Einsatz sei offenkundig Teil einer Konfrontationsstrategie von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), der sich als Hardliner beweisen wolle.
"Wer keine Argumente mehr hat, schlägt zu", kritisierte auch die Vorsitzende des baden-württembergischen BUND-Landesverbandes, Brigitte Dahlbender. Die Umweltschutzorganisation hat am Donnerstag beim Verwaltungsgericht Stuttgart eine einstweilige Anordnung gegenüber dem Land Baden-Württemberg beantragt. "Mit diesem rechtlichen Schritt wollen wir die Landesregierung verpflichten, gegenüber der Deutschen Bahn anzuordnen, alle Abriss- und Baumfällarbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof und im Schlossgarten mit sofortiger Wirkung zu stoppen", sagte Dahlbender.
Dieser Baustopp müsse solange gelten, bis in einem ergänzenden Planfeststellungsverfahren oder im Wege der Planergänzung die vom BUND gegenüber dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) geltend gemachten artenschutzrechtlichen Verstöße in Bezug auf streng geschützte Tierarten, beispielsweise Fledermäuse, ausgeräumt werden.
Die Linkspartei kündigte ein Nachspiel an und verlangt eine Klärung der Geschehnisse. "Die Meldungen über den massiven Polizeieinsatz am heutigen Tage in Stuttgart gegen tausende Demonstranten und die hohe Zahl von verletzten Personen haben die Fraktion Die Linke dazu veranlasst, für den morgigen Freitag eine Sondersitzung des Innenausschusses zu fordern", sagte Innenexperte Jan Korte am Donnerstagabend in Berlin.
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