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1.374 Tage Krieg in der UkraineFreiwilligenarbeit als Hobby

In der Ukraine packen Freiwillige aus aller Welt dort an, wo Politiker noch diskutieren. Für viele ist das auch sinnstiftende Freizeitbeschäftigung.

Ein Freiwilliger der humanitären Mission Proliska unterstützt Einheimische, die von einem russischen Drohnenangriff betroffen sind Foto: Myakshykov Mykola/Ukrinform/ABACA/picture alliance

K ürzlich war ich zufällig dabei, als ausländische Freiwillige der ukrainischen Armee Autos übergaben. Zum besseren Verständnis: diese Freiwilligen sind Teil einer Online-Community mit mehreren Zehntausend Mitgliedern aus verschiedenen Ländern, die gemeinsam die Ukraine unterstützen. Die Community hat den lustigen Namen NAFO (North Atlantic Fella Organization).

Ursprünglich waren das mal ein paar Internet-Trolle, die russische Propaganda im Netz bekämpften, indem sie lustige Bilder repostet haben. Jetzt sammeln sie riesige Geldsummen für den Kauf und die Umlackierung Hunderter von Geländefahrzeugen, Pickups und Lkws, die sie seit einigen Jahren an ukrainische Militäreinheiten weitergeben.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne

NAFO ist nur eines von zahlreichen Beispielen, das zeigt, wie Menschen auf der Suche nach Zerstreuung im Internet zum Ehrenamt kommen. Sie sind Teil einer weltweiten Bewegung, deren Vertretern man in der Ukraine buchstäblich auf Schritt und Tritt begegnet.

Freiwillige jammern nicht über Kriegsmüdigkeit. Sie tun schlicht, was sie für richtig halten.

Tun, was man für richtig hält

Während Diplomaten „zutiefst beunruhigt“ darüber streiten, ob man die Ukraine nun unterstützen solle oder nicht, sind diese Menschen bereits vor Ort. Sie jammern nicht über „Kriegsmüdigkeit“. Sie behaupten nicht, dass sie „in den Krieg hineingezogen werden“ oder dass „die Ukraine selbst schuld ist“. Sie tun schlicht, was sie für richtig halten.

Bild: privat
Artem Perfilov

Freiberuflicher Journalist und lokaler Produzent aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Seit Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine begleitet er ausländische Journalisten, unter anderem in die Frontgebiete. Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Ich habe bemerkt, dass diese Freiwilligenarbeit für viele Menschen zu einer Art Hobby geworden ist. Es gibt ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden und vielleicht sogar einen Adrenalinkick. Die Menschen haben einfach ihre Nische gefunden und tun Nützliches, so wie andere Briefmarken sammeln oder Modellflugzeuge bauen. Und die Ukraine gehört zu den Ländern, in denen man sich relativ einfach ehrenamtlich engagieren kann.

Die Freiwilligen entdecken die Ukraine für sich, lernen einfache Wörter wie „djakuju“ („danke“) und „do pobatschennja“ („auf Wiedersehen“), knüpfen neue Bekanntschaften oder gründen gar Familien. Für einige von ihnen ist die Ukraine schon so etwas wie das zweite Zuhause. Weil sie im ganzen Land unterwegs sind, kennen manche von ihnen die Ukraine besser als die Ukrai­ne­r*in­nen selbst.

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Lebensgefährliche Freiwilligeneinsätze im Frontgebiet

Und bei uns gibt es ja auch viel zu tun: Einige evakuieren ehrenamtlich Zi­vi­lis­t*in­nen. Das ist eine harte und gefährliche Arbeit, nahe der Frontlinie. Erst neulich wurde ein Fahrzeug der gemeinnützigen Organisation „Proliska“ von einer Granate durchschossen. Zum Glück konnten die Insassen vorher noch herausspringen. Andere Organisationen haben sich auf die medizinische Versorgung und den Transport verwundeter Soldaten aus frontnahen Stabilisierungsstellen in Krankenhäuser spezialisiert.

Im Mai habe ich in der Südukraine Sven aus Schweden kennengelernt, der schon seit zwanzig Jahren humanitäre Hilfstransporte fährt. Eigentlich nichts Besonderes, aber Sven ist 84… Und doch setzt er sich immer wieder hinters Lenkrad, um Dinge wie Decken, Babywindeln und Rollstühle aus Schweden in die Ukraine zu bringen. Sven bringt diese Dinge in das Dorf Staroschwedske (historisch: Altschwedendorf) im Gebiet Cherson. Vor 250 Jahren wurde es von Schweden gegründet. Jetzt ist es zerstört, die Menschen wurden in umliegende Dörfer evakuiert und sind auf Hilfe angewiesen.

Fahrzeuge für die Armee

Wie oben schon erwähnt, überführen viele Freiwillige Autos für die Armee. „Wir sind hier, um 50 Fahrzeuge an das Militär zu übergeben“, erzählten mir zwei norwegische Freiwillige in Kyjiw. Viele dieser Menschen stehen in Kontakt mit Armee-Einheiten und kennen genau deren Bedarf. Für die Soldaten sind solche Menschen trotz der Sprachbarriere bereits wie ein Teil der Familie.

Freiwillige trifft man in der Ukraine überall: während der Arbeit und im Urlaub, an der Front und in Kneipen, im Rahmen großer Missionen und als „Einzelkämpfer“. Sie kommen aus Deutschland, der Schweiz, Skandinavien, Italien, Polen, den baltischen Staaten – wen trifft man nicht alles auf den staubigen Militärstraßen. Sie alle finden in der Ukraine vor allem eines – zu sich selbst.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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