13. documenta Kunstausstellung in Kassel: Toter Hirsch am Weinberg
Die 13. documenta will Mensch und Kunst Demut lehren. Sie gleicht einem Ritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik - und landet bei der Naturreligion.
KASSEL taz | „Die Natur soll wohl gebremst werden.“ Ganz hat das Paar, das zu Beginn der Woche in der Kasseler Karlsaue steht, den Sinn von Giuseppe Penones Skulptur nicht verstanden. Denn der Baumstamm, der gar kein Baumstamm, sondern eine Skulptur ist und einen Stein in der entlaubten Krone trägt, symbolisiert eher die Balance zwischen Natur und Kultur. Aber die Szene ist ein schönes Beispiel für das produktive Missverständnis, das nur die Kunst auslösen kann. Wichtiger als eine letztgültige Bedeutung ist der Diskurs über Kunst.
Carolyn Christov-Bakargiev hätte die Szene sicher gut gefallen. Denn produktive Missverständnisse sind das Lebenselixier der 55-jährigen Italoamerikanerin, die die 13. documenta leitet, die am Samstag in Kassel eröffnet wird. Kaum eine documenta-Chefin hat im Vorfeld so sehr für Missverständnisse gesorgt, wie sie, als sie Hunde und Tomaten zu Künstlern, dem Menschen ebenbürtig, erklärte.
Das Beste, was man über ihre documenta sagen kann, ist, dass sie diese Missverständnisse nicht ausgeräumt und in ein leicht konsumierbares Konzept gegossen hat. Die Schau bildet das wilde Denken ihrer Urheberin gleichsam ab. Vom antiken Arzt Sextus Empiricus bis zur Technofeministin Donna Haraway mixt Bakargiev gern alles verfügbare Weltwissen zu aufregenden Ideenskizzen.
Kein Wunder also, dass die 13. Ausgabe des Kasseler Kunstolymps einem essayistischen Parforceritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik gleicht, bei dem vorsätzlich Äpfel mit Birnen verglichen werden. Sonst hätte Bakargiev den Philosophen Christoph Menke und den Quantenphysiker Anton Zeilinger nicht gleichberechtigt neben Salvador Dalí und Lawrence Weiner platziert.
Zustand permanenter Krisen
Über einen Moment der Irritation führt diese Nivellierung aber letztlich nicht hinaus. Die Experimente mit Quantenpartikeln des österreichischen Physikers Anton Zeilinger sind zwar ebenso ein Beispiel für eine reizvolle Zufallsästhetik wie der wunderbare Haufen ausrangierter Schrottteile, den die italienische Künstlerin Lara Favaretto am alten Kasseler Hauptbahnhof wild aufeinandergetürmt hat; doch welchen Vorteil könnte die Kunst aus der Kreuzung mit der Wissenschaft ziehen? Welchen, bizarren Abfall zu Ikonen zu nobilitieren? Viel Interesse an der besonderen Kraft der Kunst in einem Welt-„Zustand permanenter Krisen“ (Bakargiev) scheinen die documenta-Macherinnen nicht zu haben, wenn sie ihr die bewusst gestaltete Form derart ausreden wollen.
Dennoch entfaltet die Idee, den Menschen mit der Kunst seines Alleinstellungsmerkmals zu berauben, natürlich eine provozierende Kraft. Statt eines zentralen Leitwerks empfängt die Besucher im Foyer ein sanfter Luftzug des amerikanischen Künstlers Ryan Gander. Und in der Rotunde des Fridericianums steht ein Parfumflakon aus dem Bad von Adolf Hitlers Münchener Wohnung neben der Kultfigur einer 4.000 Jahre alten "Baktrischen Prinzessin" aus Zentralasien. Neben den Flaschen, nach deren Vorbild Giorgio Morandi seine Bilder malte, liegt ein Funktionsmodell von Konrad Zuses ersten Computern vom Ende der dreißiger Jahre.
Und wenn es Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg tatsächlich gelungen wäre, den 37 Tonnen schweren Meteoriten El Chaco aus der argentinischen Wüste in die Karlsaue zu transportieren, hätten die documenta-Besucher die Frage, was eine Form ist und wer ihr Schöpfer, an einem erratischen Objekt studieren können, das älter ist als die Erde und der Mensch.
So wenig Pop, so viel Ernst war auf einer documenta nie. Gegen digitale Leichtigkeit setzt Bakargiev Masse und Geschichte, beschwört die „Zeit der Materialien“. Doch würde die Welt besser, wenn die Kunst aufs Gestalten verzichtete? Was wäre gewonnen, wenn der Mensch „demütig“ (Bakargiev) würde, weil er das Wunder der vom Himmel gefallen Form erkennt? Von der guten alten Kunst- zur schönen neuen Naturreligion ist es auf Bakargievs documenta nur ein kleiner Schritt.
Jede Menge progressive Politkunst
Und diese Gefahr wird nicht geringer, nur weil in Kassel jede Menge progressiver Politkunst zu sehen ist. Zu ihren Highlights zählt die Arbeit des Ägypters Wael Shawky, der in seinem Film „Paths to Crusades“ die Geschichte der Kreuzzüge mit Marionetten nachspielt.
Ausgerechnet mit der documenta den Anthropozentrismus zu Grabe zu tragen ist natürlich eine faszinierende Idee. Doch die narzisstische Kränkung für den Menschen hielt sich in Grenzen. Ob es tatsächlich „nichtmenschliche Produzenten“ von Kunst gibt, lässt sich auch nach Kassel nicht sagen. Ob die Schmetterlinge in Kristina Buchs Blumeninsel vor der documenta-Halle ihren Flattertanz zwischen Brennnesseln und Disteln selbst als Kunst empfinden, wird der Homo sapiens, der davor staunt, nie erfahren. Auch als Sinnbild einer verlorenen Vielfalt ist die bunte Blumeninsel ästhetisch etwas einfach gestrickt. Und Vielfalt ist mehr als Artenvielfalt.
Kein Zweifel: Die „ökologische Frage“ ist die eigentliche Kernkompetenz von Bakargievs Schau. Deswegen wird sie im Gedächtnis bleiben. Und zum Glück setzen nicht allzu viel Künstler auf die ästhetische Schwundform einer selbsttätigen Organik. So wie der chinesische Künstler Song Dong mit seinem wild vor sich hin wuchernden "Doing Nothing Garden" aus organischem Abfall.
Ein zeitgenössischer Gänsegeier
Adrián Villar Rojas oder Claire Pentecost beweisen, dass Kunst mehr vermitteln kann, als die Unterwerfung unter die Ökodiktatur des Komposthaufens. Der tote Hirsch aus Ton des Argentiniers in den Terrassen des Kasseler Weinbergs erinnert an die geborstenen Relikte einer untergegangenen Zivilisation. Mit ihren Barren aus Erde hat die Amerikanerin eine Alternativwährung zum Petrodollar namens „Soil-erg“ erfunden.
Vollends heraus aus dem Reich der unbelebten Produzenten führt „Raptors Rapture“, der Film des puerto-ricanischen Künstlerpaars Allora und Calzadilla - vorgeführt in einem unterirdischen Bunker des Weinbergs. Denn die pfeifende Melodie, die eine Flötistin einer hauchdünnen, 35.000 Jahre alten, aus dem Knochen eines Gänsegeiers geschnitzten Flöte entlockt, klingt wie ein Hochamt auf den Menschen und die Kunst. So wie sie hier der Natur begegnet, kommt es noch nicht einmal zu einem Missverständnis. Ein zeitgenössischer Gänsegeier, das älteste Tier der Welt und vom Aussterben bedroht, beäugt mit schief gelegtem Kopf das Konzert und schweigt.
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