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1.138 Tage Krieg in der UkraineUnd gleich füllen sich die Augen mit Tränen

Seit fast zwanzig Jahre singen die alten Damen aus dem Kyjiwer Umland im Chor. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen – aber sie machen weiter.

Der Chor bei einem öffentlichen Auftritt – in ukrainischer Tracht Foto: privat

S ie singen über die Ukraine, die unter dem Krieg leidet. Über die Städte Mariupol, Butscha, Irpin und Wolnowacha. Über eine Mutter, die auf ihren Sohn wartet und betet, dass er lebend in seine Heimat zurückkehrt.

Die Laien-Chor Pereweslo ist 18 Jahre alt. Er ist zwar noch nicht ganz erwachsen, aber schon volljährig und hat viel erlebt. Das Ensemble besteht aus jung gebliebenen, aber erfahrenen Solistinnen, deren Alter nur ihre Pässe verraten (das jüngste Mitglied wird bald 55, das älteste 80 Jahre alt!).

Die Frauen wollen bis zu ihrem 100. Lebensjahr singen, „so Gott will“, sagt die Leiterin Olga Fainikowa. „Es gibt in Butscha sehr gute Gruppen, es gibt viele davon. Aber keine ist, ich möchte nicht sagen, alt, sondern so weise wie wir.“

Bild: privat
Walerija Samoshyna

Ukrainische Journalistin, Pädagogin und Freiwillige. Geboren in Worsel, Bezirk Butscha bei Kyjiw. Mitglied des Nationalen Journalistenverbandes der Ukraine, Ehefrau eines Veteranen des russisch-ukrainischen Krieges und Mitbegründerin der Gruppe „Frauen der Soldaten der ukrainischen Streitkräfte“, die Soldaten und ihren Familien hilft. Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Im Saal des Kulturzentrums Uwarowsky Dim in Worsel – eine Ortschaft im Gebiet Kyjiw – wo die Gruppe probt, werde ich mit einem Lächeln und strahlenden Augen begrüßt. Alle sind hochmotiviert. Nachdem wir uns bekannt gemacht haben, tragen die Künstlerinnen ihr erstes Lied vor. Und gleich füllen sich die Augen einiger, die gerade noch vor Freude strahlten, mit Tränen.

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„Wir hätten nie gedacht, dass wir das erleben würden, was wir jetzt durchmachen. Und wir alle sind von Schmerz erfüllt, was in unserer Ukraine passiert. Rajas Enkel kämpft, auch Katjuschas Sohn ist an der Front. Die Lieder, die wir einstudieren und singen – wir weinen zusammen, wir singen zusammen, wir beten zusammen zu Gott. Aber wir versuchen, unsere Jungs so gut zu unterstützen, wie wir können“, sagt Olga Fainikowa unter Tränen.

Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte

Die Sängerinnen unterstützen ukrainische Soldaten, die durch die Hölle des Krieges gegangen sind, mit Liedern und Leckereien. Ihr Traum: ein Auftritt im Militärkrankenhaus, darauf bereitet sich die Gruppe jetzt vor. „Wir wollten sogar schon dort hinfahren, aber sie haben uns gesagt, sie würden uns nicht mitnehmen, denn sie wollten an die Front. Wir backen Kuchen, denken uns etwas aus – kurz gesagt, wir unterstützen sie, damit sie wissen, dass wir sie lieben und auf sie warten. Das ist sehr wichtig für sie. Sie sollen doch spüren, dass sie gebraucht werden“, so Fainikowa.

Jede der Sängerinnen weiß, was Krieg bedeutet. Eine hat Angehörige verloren, eine andere hatte mehr Glück – die Besatzer zerstörten nur ihr Haus.

Die Frauen sprechen auch über Verluste in ihrem Ensemble: „Wir waren 17 Sängerinnen, aber dann wurde unsere Solistin Ljusja Schabalowa getötet. Eine andere Frau hörte auf zu singen, als ihre Mutter während des Krieges starb. Auch Nina ist gestorben, sie konnte all das nicht mehr aushalten.“ Auch das Herz des Ensembleleiters, des mehrfach ausgezeichneten Künstlers der Ukraine Gennadi Pawlik, konnte die russische Invasion nicht mehr ertragen – es hörte im März 2022 auf zu schlagen. Jetzt sind sie noch zehn Sängerinnen.

Trotz all der Trauer, die die Gruppe aufgrund des russischen Angriffskrieges erlebt hat, singen die Frauen weiter. In diesem Jahr wurde ihr Status als Folkloregruppe zum dritten Mal bestätigt, das Repertoire umfasst etwa 500 Lieder. Die Frauen warten auf den Sieg der Ukraine. Dann werden sie auf jeden Fall ein Festkonzert geben.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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