100. Todestag Franz Kafka: Wer hat Angst vor Kafka?
Einspruch gegen die Welt erheben, ohne direkten Einspruch zu erheben, geht das denn? Über Franz Kafkas Werk wurde viel gestritten.
Viel wurde gestritten über den Aspekt der Entfremdung bei Kafka. Angesichts des stets wiederkehrenden, undurchdringlichen Systems der Macht und der Nichtmöglichkeit von Kommunikation in Kafkas Werk drängte sich den Interpreten die Kategorie Entfremdung förmlich auf. Jedoch waren es, wie man wohl annehmen würde, nicht unbedingt die marxistischen Literaturkritiker und -theoretiker, die Kafka verehrten.
Im Gegenteil. Wie auch den späteren Existenzialisten warfen ihm viele übersteigerten Subjektivismus, Nihilismus und gar Ästhetizismus vor.
Klar, Kafkas Protagonisten werden nicht im kapitalistischen Produktionsprozess mit Entfremdung geschlagen, und um die Erkenntnis einer objektiven Wirklichkeit geht es bei ihm schon gar nicht. Mit dem klassischen Realismus in der Literatur hatte dieser Autor der literarischen Moderne ganz offenbar gebrochen. Die Kafka’sche Avantgarde galt vielen als dekadent, was heute fast vergessen ist.
Gleich ob bürgerliche oder materialistische Literaturtheorie, suspekt war ihnen gleichermaßen die affizierende, gar ätzende Wirkung von Kafkas Allegorien mit ihren hermetischen Welten, die kein Raum-Zeit-Kontinuum mehr kennen.
Einspruch gegen Instrumentalisierung
Anders Theodor W. Adorno. Er verehrte Kafka, gerade weil er bei Kafka keine „Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus ihren Bruchstücken“ vorfand. „In ihren Monologen hallt die Stunde, die der Welt geschlagen hat: darum erregen sie so viel mehr, als was mitteilsam die Welt schildert“, schrieb Adorno über Kafka, Joyce und Beckett.
„Aber die Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit; purer Aberglaube, sie vermöchte direkt einzugreifen oder zum Eingriff zu veranlassen“, heißt es in Adornos „Ästhetischer Theorie“ gegen jede Form der engagierten oder realistischen Kunst gerichtet, weil: „Instrumentalisierung von Kunst sabotiert ihren Einspruch gegen Instrumentalisierung.“ Für Adorno war auch das eine Lehre, die aus der Katastrophe, der Schoah, gezogen werden musste.
Von Kafkas Einspruch gegen die verwaltete Welt, der eben genau kein direkter Einspruch im Sinne eines Abbilds jener schlechten wahren Welt ist und dem schon gar nicht an Bewusstmachung gelegen ist, konnten sich auch die Realsozialisten gemeint fühlen. Was sie auch taten.
Das Verdikt der Realsozialisten gegen Kafka ging vor allem auf den Marxisten Georg Lukács und seinen programmatischen Aufsatz „Franz Kafka oder Thomas Mann“ zurück. Lukács wähnte sich vor die Alternative „interessante Dekadenz oder lebenswahrer kritischer Realismus?“ gestellt und plädierte dogmatisch für Zweiteres.
Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Kafka der Autor ist, der am Anfang einer Öffnung der Ostblockstaaten steht: 1963, auf der Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag, diskutierte man, so die Überlieferung, erstmals öffentlich Entfremdung in Bezug auf den realen Sozialismus. Vielen gilt diese Konferenz als Initiator des Prager Frühlings 1968.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend