100. Geburtstag von Albert Camus: Nackt in der Welt
Er war ein Hedonist der Simplizität und Nacktsein hatte für ihn große Bedeutung. Am 7. November wäre der Philosoph Albert Camus 100 geworden.
Albert Camus war einer der hellsichtigen Freigeister seines Jahrhunderts, und so lehnte er auch solche Nudisten, die ihre Kleiderlosigkeit wie ein obligatorisches Kostüm tragen, als verquere „Protestanten des Körpers“ ab. Aber in aller Selbstverständlichkeit sich am Strand auszuziehen, um Sonne und Meer auf der Haut zu spüren, hatte für ihn eine Bedeutung, „die man gar nicht hoch genug einschätzen kann“.
Nach zwei Jahrtausenden der „Reduzierung des Körpers und der Verkomplizierung von Kleidern“, notierte er frohlockend, kehre in seiner Epoche der europäische Mensch erstmals wieder zur griechischen Natürlichkeit zurück. Immer wieder schilderte Camus – manchmal mit hymnischem Ton – die „Hochzeitsfeste“ (so der Titel eines seiner frühen Texte) der Begegnungen von Haut, Sonnenstrahlen und Meeresnässe. Selbst noch im strengen Roman „Die Pest“ ließ er, weil es „zu idiotisch ist, immer nur in der Pest zu leben“, inmitten der Düsterkeit des allgemeinen Sterbens zwei der Hauptfiguren kleiderlos in das Meer steigen.
Der selbstbewusst nackte Mensch ist in Camus’ frühem Werk geradezu ein Musterbeispiel jenes rebellischen Stolzes, der die Triebfeder seiner gesamten Philosophie bleiben wird und der für ihn das absurd-subversive Gegenstück zur schalen Eitelkeit der „seriösen“ Menschen ist.
Da der Nackte gleichermaßen arm und reich ist – arm in seiner Kleiderlosigkeit, reich dank der Empfindungsintensitität, die sich ihm erschließt –, überlagern sich in ihm überdies für Camus die beiden polaren Grundmotive, die seine Kindheit geprägt hatten: die Mittellosigkeit, die für den Sohn einer analphabetischen Putzfrau selbstverständlicher Alltag gewesen war, und das tief in seinem Naturell verankerte Gefühl, gleichwohl ein „König des Lebens“ zu sein. In dem autobiographischen Roman „Der erste Mensch“ gibt Camus eine sehr schöne Erzählung seiner algerischen Kindheit.
Er befreite sein Weltbild
Camus war ein Hedonist der Simplizität. Als habe er dem anderen großen Geburtstagskind des Jahres 2013, dem 100 Jahre älteren Richard Wagner, eins auswischen wollen, konstatierte er: „Arm sind solche, die Mythen brauchen.“ Als Philosoph machte er sich früh daran, von seinem Weltbild alles abzustreifen, was vielleicht verführerisch funkelt, aber letztlich das Spüren von Wirklichkeit verhindert.
In dem 1942 erschienenen Essay „Der Mythos von Sisyphos“ – einem der großen Texte des Existenzialismus – transponierte Camus das Glückserlebnis seiner Jugend, sich frei von Kleidern und mit auf Glück gestimmter Sensitivität der jedes Menschenmaß übersteigenden Gewalt von Sonne und Meer hinzugeben, ins Philosophische.
Der nietzscheanische Grundimpuls des Buches: man soll sich von den „Vorurteilen seines menschlichen Milieus“ freimachen. Endlich nackt der Welt gegenübertreten. Unbedeckt vom Ewigkeitsplüsch, mit dem die Religionen den sterblichen Menschen bedecken, sich seinem Schicksal stellen. Nicht mehr glauben, dass die Welt einen Sinn hat, der wie ein Kostüm auf den Menschen zugeschnitten ist. Demjenigen, der die Sinnlosigkeit der Welt anerkenne, so verkündet blasphematorisch-überschwenglich Camus, erschließe sich „der Wein des Absurden und das Brot der Indifferenz, die seine Größe nähren“.
Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1957 war, wie man heute bereitwillig konzediert, ein faszinierender Schriftsteller, ein authentischer Philosoph und ein besonnener Zeitgenosse. Er hat, wie Michael Walz es formulierte, „in einer schwierigen Epoche es besser gemacht als die meisten seiner Zeitgenossen“.
In den ersten Jahrzehnten nach seinem in der Tat absurden Unfalltod (1960) – obgleich er die Bahnfahrkarte schon gekauft hatte, begleitete er einen Freund in dessen neu erworbenem Facel-Vega – hätten nur wenige das so gesagt. Camus schien abgeschlagen in der Nachkriegszeit festzustecken, während Sartre, der andere große Existenzialist, über jedes Verfallsdatum erhaben wirkte. Aber seit dem Fall der Mauer ist der Stern des „Philosophen für Abiturklassen“ (so einst abschätzig die Sartre-Anhänger über Camus) erneut am Aufsteigen. Ein skeptisch gewordener Zeitgeist schätzt, dass Camus, so man es in dem Roman die „Pest“ lesen kann, keine Illusionen brauchte, um sich gegen Unrecht zu engagieren.
Der Kadaver in mir
Noch in Algier hatte der so körperfrohe Camus die Bekanntschaft einer zehrenden Krankheit machen müssen: der Tuberkulose. Aber der „Kadaver in ihm“ hielt ihn nicht einmal vom Rauchen ab, auf zahlreichen Fotos erscheint er mit einer Gauloise im Mundwinkel, und erst recht nicht davon, die „Kadaver um ihn“ – die Opfer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts – nicht akzeptieren zu wollen. Nach seinem Umzug nach Frankreich schloss er sich schnell der Résistance an. Kaltblütig-existenzialistisch erklärte er den Nationalsozialisten: „Der Himmel ist gegenüber euren gräulichen Siegen indifferent, und er wird indifferent sein gegenüber unserem gerechten Sieg.“
In der Nachkriegszeit verschloss er seine Augen nicht vor der Realität des Stalinismus. Anders als Sartre, der laut Camus allzu bequem „seinen Stuhl in den Wind des Fortschritts“ stellte, verweigerte er sich einer geschichtsphilosophischen Legitimierung der „Verbrechen der Vernunft“. Seine libertäre Politikauffassung, die sich auf die konkrete „Revolte“ statt auf die abstrakte Revolution stützt – so 1951 in dem Essay „Der Mensch in der Revolte“ – ist auch heute für Emanzipationsbewegungen, die statt auf abstrakte „historische Subjekte“ auf erlebte „Empörung“ setzen, hochinteressant.
Der „situierte“ Mensch
Die Bewunderung für Camus schmälert es nicht, dass es auch ihm nicht gelang, ganz ohne Straucheln sämtliche Hürden seiner Epoche zu nehmen. Unbefleckte Zeitgenossenschaft ist für den „situierten“ Menschen unmöglich. Camus’ Achillesferse war seine biographische Implikation in die französische Kolonialgeschichte. Ausgerechnet anlässlich der Nobelpreisverleihung 1957 kam es zum Eklat: Bei einer öffentlichen Diskussion erklärte der gerade Geehrte, wenn er zwischen seiner Mutter, die weiterhin in Algier lebte, und der Gerechtigkeit zu wählen habe, bevorzuge er erstere. Die Bemerkung war und ist persönlich nachvollziehbar. Aber viele algerische Nationalisten deuteten sie so, als sei in der Zuspitzung des algerischen Befreiungskrieg der Humanist Camus im Kolonisten Camus ertrunken.
Einige von Camus’ Texten können sogar im weitesten Sinne der Kolonialliteratur zugeordnet werden. Heutigen Lesern fällt auf, dass im Roman „Der Fremde“ das Mordopfer immer nur „der Araber“ genannt wird. Es wäre zumindest eine Überlegung wert, ob nicht eine der Wurzeln von Camus’ Existenzphilosophie – seine Auffassung, dass die absurde Welt den Menschen verneint, dieser aber unbeirrt in ihr seine Anliegen verfolgen soll – in der Erfahrung des Kolonialisten liegt, der Tag für Tag gegen eine latent feindliche Umgebung seine französische Citoyen-Republik in Gang zu halten hatte.
Es war unter der algerischen Sonne seiner afrikanischen Jugend, dass Camus den Hedonismus der Nacktheit entdeckt hatte. Bei den Badefesten, die er mit seinen französischen Altersgenossen gefeiert hat, fiel gelegentlich auch einmal sein Blick auf die weißen Würfel der Kasbah im Hintergrund des Strandes. Das Weiß der Araberstadt, so schildert er in dem Text „Sommer in Algier“, bildet einen ästhetischen Kontrast zu den gebräunten Körpern. Es kümmert ihn nicht, dass hinter diesen Kontrastflächen für sich sonnende Menschen leben, die sich verschleiern. Stattdessen fantasiert er, dass die jugendlichen Algerienfranzosen mit ihrer der Sonne, den Wellen und der Erotik hingegebenen Körperlichkeit „vielleicht unbewusst dabei sind, das Gesicht einer Kultur zu modellieren, in der die Größe des Menschen endlich ihr wahres Gesicht findet“.
Der „große“ Mensch, für den hier auf arabischem Territorium ein griechisches Arkadien geschaffen wird, ist kein bösartiger Übermensch. Doch er gehört einer Gesellschaft an, die 2 Jahre nach Camus’ Tod anlässlich der Bildung des algerischen Staates und der neuen Diktatur hastig die Koffer packen musste.
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