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1. Mai in der TürkeiPolizeigewalt und viele Festnahmen in Istanbul

Zum 1. Mai mobilisieren türkische Opposition und Gewerkschaften zu einer Großkundgebung. Am Taksimplatz nimmt die Polizei Hunderte Menschen fest.

Protest am 1. Mai im Istanbuler Viertel Kadikoy Foto: REUTERS/Dilara Senkaya

Istanbul taz | Hunderttausende auf den Straßen und massenhafte Festnahmen durch die Polizei; der 1. Mai in der Türkei war wie erwartet ein Großkampftag der Opposition und der Gewerkschaften. Während landesweit weitgehend friedlich demonstriert wurde, kam es in Istanbul zu heftigen Angriffen der Polizei auf Demonstranten. Wie schon in den Jahren zuvor versuchten überwiegend Angehörige von linken Organisationen den zentralen Taksimplatz für eine Maikundgebung zu erreichen.

Doch seit den Gezi-Protesten 2013 sind Demonstrationen auf dem Platz verboten, und die Polizei setzte in diesem Jahr das Verbot besonders brutal durch.

Wie in den Jahren zuvor wurde der Taksimplatz weiträumig abgesperrt. In Besiktas, Şişli und Beyoğlu waren alle Straßen gesperrt, die zu dem zentralen Platz führten. Dennoch versuchten an verschiedenen Stellen Demonstranten die Sperren zu umgehen. Doch die Polizei kannte kein Pardon. Bis mittags um 14 Uhr wurden mehr als 400 Personen festgenommen und in Polizeibussen weggekarrt.

Auf dem Platz durfte lediglich eine kleine Gewerkschaftsdelegation Blumen niederlegen, um an die Opfer des sogenannten „Blut-Mai“ zu erinnern. In Jahr 1977 hatten mutmaßlich rechtsradikale Killer die 1. Mai-Kundgebung auf dem Taksimplatz angegriffen und 34 Menschen getötet. Aus diesem Grund wird eben auch trotz Verbot jedes Jahr erneut versucht, den Taksimplatz für die 1. Mai-Kundgebung zu besetzen.

Rituelle Konfrontation

Um dieser fast schon rituellen Konfrontation zu entgehen, hatten die großen Gewerkschaften und die CHP in diesem Jahr zu einer Kundgebung in Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt aufgerufen. Zehntausende kamen, um gegen das autoritäre „Erdoğan-Regime“ zu protestieren und „Gerechtigkeit für Imamoğlu“ zu fordern, den Istanbuler Oberbürgermeister. Er wird seit dem 19. März im Gefängnis festgehalten.

Bereits morgens um 9 Uhr war die Demonstrationsstrecke nach Kadiköy mit tausenden Menschen überfüllt, die sich im Schritttempo dem Kundgebungsplatz näherten, wo derweil vor noch leeren Rängen die Internationale aus den Lautsprechern schallte.

Erst gegen 13 Uhr füllte sich der Platz, und bis es losging, mussten die DemonstrantInnen dann noch eine Stunde im Regen stehen. Aber trotz Regen und eines massiven Polizeispaliers war die Stimmung gut – erst als ein Sprecher von der Bühne die massenhaften Festnahmen rund um den Taksimplatz auf der anderen Seite des Bosporus bekannt gab, buhten die Leute zornig. Auch Özgür Özel, der Vorsitzende der CHP, verurteilte die Festnahmen scharf und kritisierte das „Erdoğan-Regime“ dafür, den Taksimplatz zu beschlagnahmen.

Rote Linie überschritten

Der diesjährige 1. Mai reiht sich ein in eine Kette von Demonstrationen und Kundgebungen, die sich seit der Festnahme von Imamoğlu durchs ganze Land zieht. Die Verhaftung des populären Oppositions­politikers hat nicht nur die Mitglieder der CHP mobilisiert, sondern auch den größten Teil der Studenten und Schüler der Gymnasien. Gerade die türkische Jugend sieht in der Festnahme Imamoğlus eine rote Linie überschritten, mit der sich Präsident Erdoğan auch des letzten Rests einer demokratischen Fassade entledigt.

Die meisten jungen TürkInnen wollen aber nicht in einem autokratischen islamischen Land leben, in dem der Präsident auf Lebenszeit herrscht. Deshalb sind die großen Istanbuler, Ankaraner und Izmirer Universitäten im Aufruhr. Deshalb wird an jedem Wochenende in einer anderen türkischen Großstadt für die Freilassung Imamoğlus demonstriert und an jedem Mittwoch in einem anderen Istanbuler Bezirk der Verkehr lahmgelegt.

Die Regierung Erdoğan reagiert auf den demokratischen, friedlichen Protest immer auf die gleiche repressive Weise. Wie jetzt am 1. Mai wurden auch in den Wochen zuvor schon massenhaft Menschen festgenommen, die ihre Kritik an der Regierung öffentlich machten. Gegen mehr als 800 StudentInnen führen die Staatsanwaltschaften Verfahren, allein in Istanbul sind mehr als 200 junge Leute vor Gericht angeklagt

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