0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungshilfe: Genug reicht nicht

Deutschland schafft es nach fast 50 Jahren, 0,7 Prozent seines Bruttonational­einkommens für Entwicklungshilfe auszugeben. Ist das Ziel noch zeitgemäß?

Ein Mann legt einem kleinen Mädchen, das ein Kopftuch trägt, einen Kranz um

Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, in Äthiopien Foto: dpa

Das „Jubiläum der Unzuverlässigkeit“, spottete der Evangelische Entwicklungsdienst einmal. Da war ein wichtiges Versprechen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1970 gerade 40 Jahre alt geworden: 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) sollten die Mitgliedsländer im Jahr für Entwicklungshilfe ausgeben – und Deutschland brach sein Ehrenwort Jahr für Jahr. Zum 50. Jubiläum hat die Bundesrepublik es doch nicht kommen lassen: Am Dienstag meldete die OECD, dass Deutschland 2016 endlich genau 0,7 Prozent des BNE in Entwicklungszusammenarbeit investiert hat.

1970 bis 2017 – es gibt wenige konkrete Ziele, die so eine lange Zeitspanne überleben. Der jetzige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) war ein Teenager von 15 Jahren, als die UN-Vollversammlung mit der Resolution 2626 das 0,7-Prozent-Ziel anpeilte, das bis heute Messlatte für einen fairen Beitrag der reichen Industriestaaten ist. Die Zahl hatte der kanadische Friedensnobelpreisträger Lester Pearson im sogenannten Pearson-Bericht vorgeschlagen. Erreichen sollten die reichen Industrieländer sie „bis 1975 und auf keinen Fall später als 1980“.

Hoffnungsvoll hatte es begonnen: „Die Deutschen waren die ersten“, beginnt der Spiegel im März 1970 einen Artikel. „Kaum lag der Text des sogenannten Pearson-Reports über die Entwicklungshilfe der 70er Jahre in deutsch vor, da erhob die Bundesregierung die wichtigsten Vorschläge des Berichts zum Regierungsprogramm.“

Es sollte dauern. So lange, bis Flüchtlingsausgaben im Inland Deutschland 2016 endlich in Richtung der Zielmarke schubsten. Diese Umdeklarierung sorgte zwar für Schelte von Entwicklungsorganisationen, -politikern und -experten, aber eine entscheidende Frage kam in der Diskussion gar nicht vor: Wie viel ist ein 40 Jahre altes Ziel heute überhaupt noch wert?

Die Sinnfrage

Kritiker sehen die Relevanz des 0,7-Prozent-Ziels schon lange schwinden. Oft entstammen sie den Reihen derer, die öffentlicher Entwicklungshilfe ohnehin skeptisch gegenüberstehen. Doch auch ohne einen solchen Hintergrund lässt sich ein Wandel nicht abstreiten: Länder wie China und Indien sind längst selbst zu Gebern avanciert, doch ihre Ausgaben tauchen in den offiziellen Tabellen der ODA (Official Development Assistance) der OECD nicht auf. Auch private Investitionen sowie Rücküberweisungen von MigrantInnen haben im Vergleich zu den siebziger Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Sinnfrage stellt sich also durchaus.

„Die Entwicklungsländerwelt sieht anders aus als noch vor zehn oder 20 Jahren“, räumt Entwicklungsexperte Stephan Klingebiel aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik ein. Viele der Staaten bräuchten heute etwa keine vergünstigten Kredite mehr – allerdings gebe es immer noch eine große Gruppe von Ländern, die auf sie angewiesen seien. Klingebiel nennt die 0,7 Prozent ein „quantitaves Input-Ziel“. Das erklärt er so: „Wie viel man aufwendet, und dann nur im Sinne des Inputs, ist nur begrenzt aussagefähig.“ Schließlich sage es nichts über die Verwendung, die daraus folgende Entwicklung und die Qualität der Entwicklung aus. Das 0,7-Prozent-Ziel sei wie „eine Hilfskrücke“: kein Allheilmittel, aber „eine Größe, die auch bei Staats- und Regierungschefs bekannt ist“.

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Ähnlich sieht es Tobias Hauschildt, der sich bei der Hilfsorganisation Oxfam mit Entwicklungsfinanzierung beschäftigt: „Das ist im Grunde genommen die einzige internationale Benchmark, die wir in diesem Bereich haben.“ Als Benchmark, also Richtgröße oder Maßstab, sei die 0,7-Prozent-Marke eta­bliert. Vor allem aber sei die öffentliche Entwicklungshilfe, für die das 0,7-Prozent-Ziel steht, immer noch notwendig, betont Hauschildt – auch wenn die Vereinten Nationen beim letzten Finanzierungsgipfel im äthiopischen Addis Abbeba hervorgehoben haben, wie wichtig der private Sektor und eigene Steuereinnahmen der Entwicklungsländern seien. „Man kann das Gefühl bekommen, die Entwicklungszusammenarbeit steht zurück“, sagt der Oxfam-Referent.

Das ist ein Eindruck, der sich auch bei der Betrachtung der deutschen Entwicklungspolitik ergeben könnte. Minister Müllers „Marshallplan mit Afrika“ setzt ganz wesentlich darauf, private Investitionen in den afrikanischen Staaten anzuheben. Stürmt also bald der deutsche Mittelstand nach Burkina Faso, Uganda und Äthiopien?

„Wovon werden dann Schulen gebaut?“

Genau das ist zu bezweifeln. Denn die drei Länder sind Beispiele aus der Liste der am wenigsten entwickelten Länder. Als LDC (Least Developed Countries) werden immerhin über 45 Staaten bezeichnet. An diesen meist fragilen Staaten seien private Investoren nicht interessiert, sagt Hauschildt. „ODA ist etwas sehr Einzigartiges, um diese Länder zu unterstützen.“

Allerdings: Wenn die Mittel der Staaten besonders für die am wenigsten entwickelten Länder wichtig sind, müssten sich die Geberländer stärker engagieren. Schließlich weisen die vorläufigen OECD-Zahlen aus dieser Woche aus, dass ausgerechnet diese Staaten weniger Geld als zuvor erreicht. Die ODA-Mittel der Mitgliedstaaten im OECD-Entwicklungsausschuss stiegen zwar insgesamt um 8,9 Prozent auf 142,6 Milliarden US-Dollar. Die bilaterale Hilfe aber, also solche von Staat zu Staat, sank im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 Prozent. Auch OECD-Generalsekretär Angel Gurría sah sich gezwungen, die Mitgliedsländer an ihre Versprechen zu erinnern, den ärmsten Ländern zu helfen: „Es ist nun an der Zeit, die Zusagen umzusetzen.“

Auch deswegen hält Bernd Bornhorst, Vorsitzender des Entwicklungsdachverbandes Venro, es für wichtig, am 0,7-Prozent-Ziel festzuhalten. „Privatinvestitionen und Rücküberweisungen fließen an der staatlichen Politik vorbei“, sagt er und fragt: „Aber wovon werden Schulen dann gebaut?“

„Es ist richtig und wichtig, dass die anderen Gelder noch fließen“, sagt Bornhorst. Aber wenn man darüber diskutiere, ob die öffentlichen Mittel und das 0,7-Prozent-Ziel deshalb nicht mehr so relevant seien, lenke das vom Versprechen der Staaten ab. Für Bornhorst ist das Ziel „ein Zeichen der politischen Glaubwürdigkeit“.

USA könnten UN-Programme in die Bredouille bringen

Doch noch ein Punkt spricht für die Notwendigkeit eines Richtwertes: Die USA, die größte Gebernation, wollen sich verstärkt aus der Entwicklungsfinanzierung zurückziehen. Zumindest ist das US-Präsident Trumps Plan. Um 28 Prozent soll der Haushalt des Außenministeriums nach seinem Willen schrumpfen, was Kahlschlag vor allem für die Entwicklungshilfe bedeutet.

Das dürfte viele UN-Programme in die Bredouille bringen, etwa das Welternährungsprogramm, dessen größtes Geberland die USA sind. Bereits gestoppt haben die Vereinigten Staaten die Mittel für den UN-Bevölkerungsfonds UNFPA, der in armen Ländern über Familienplanung aufklärt.

„Wir haben bei den multilateralen Einrichtungen riesige Finanzierungslücken, und bei der UNO sehen wir es gerade am stärksten“, sagt Entwicklungsexperte Klingebiel. Auch vor dem Hintergrund der Hungersituation in Ländern wie dem Süd­sudan sei klar: „Es gibt einen Bedarf und sogar einen wachsenden Bedarf.“

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