+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Russland verstärkt seine Angriffe
Russlands Parlamentschef warnt vor drittem Weltkrieg. Kyjiw meldet mehr Angriffe und kritisiert Moskaus Angaben zum Il-76-Absturz.
Russlands Parlamentschef warnt vor drittem Weltkrieg
Russlands Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin hat zum 80. Jahrestag der Beendigung der Belagerung von Leningrad die Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschworen. „Für die Führung der Nato-Länder ist die faschistische Ideologie zur Norm geworden“, schrieb Wolodin am Samstag auf seinem Telegram-Kanal. Er beschuldigte die westlichen Regierungen, darunter explizit die Bundesregierung unter Olaf Scholz, eine Politik des Völkermords in der Ukraine zu unterstützen. „Das ist ein gefährlicher Weg, der zu einem neuen Weltkrieg führen kann.“
Russland begründet seinen fast zwei Jahre währenden Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit der Behauptung, das Nachbarland „entnazifizieren“ zu müssen. Russlands Präsident Wladimir Putin bemüht immer wieder den historischen Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg, um seinen Angriff auf das Nachbarland zu rechtfertigen. Dabei setzt er die von ihm befohlene Invasion der Ukraine mit der Verteidigung der Sowjetunion gegen den verbrecherischen Angriffskrieg Nazideutschlands gleich. Speziell an Jahrestagen nutzt Moskau das Argument der „Verteidigung des Andenkens an die Kriegstoten“ für seine Kriegspropaganda.
Vor genau 80 Jahren, am 27. Januar 1944, durchbrachen sowjetische Truppen den Belagerungsring der deutschen Wehrmacht rund um Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Zuvor hatten deutsche Truppen gezielt den Tod von geschätzt 1,2 Millionen Menschen verursacht. Sie kamen durch Bombardierungen, Hunger und Kälte ums Leben. Deutschlands Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, charakterisierte die Blockade als „ein besonders erschütterndes und brutales Kriegsverbrechen inmitten des verbrecherischen Überfalls auf die Sowjetunion“. (dpa)
Russisches Militär erhöht Zahl der Angriffe
Das russische Militär hat in den vergangenen Tagen nach Angaben aus Kyjiw seine Bemühungen zur Eroberung ukrainischer Orte enorm verstärkt. „Die Besatzer haben die Zahl der Angriffs- und Sturmaktionen deutlich erhöht – den zweiten Tag in Folge führt der Feind 50 Kampfhandlungen aus“, schrieb der für den Frontabschnitt im Süden und Südosten der Ukraine zuständige General Alexander Tarnawskyj am Samstag auf seinem Telegram-Kanal. Dabei habe auch die Zahl der Luftangriffe zugenommen.
Die von Tarnawskyj genannten Zahlen beziehen sich offenbar auf den südlichen Teil des Gebietes Donezk. Explizit erwähnt er Schläge gegen die dort gelegenen frontnahen Städte Myrnohrad und Nowohrodiwka, die am Vortag mit umfunktionierten Luftabwehrraketen beschossen wurden.
Moskau hat in dem Raum im Herbst 2023 eine neue Offensive zur Eroberung der Stadt Awdijiwka gestartet, die direkt an die bereits seit 2014 von russischen Kräften kontrollierte Großstadt Donezk grenzt. Nach anfänglichen Geländegewinnen kommen die Russen Medienberichten zufolge trotz großen Personal- und Materialaufwands kaum noch voran. Die Einnahme der südlich davon gelegenen inzwischen völlig zerstörten Kleinstadt Marjinka meldete das russische Militär Ende Dezember 2023. Ein weiteres Vordringen ist den russischen Kräften aber auch hier trotz intensiver Angriffe nicht gelungen. (dpa) |
Russische Soldaten töten ukrainische Dorfbewohner
Russische Soldaten sind nach ukrainischen Behördenangaben von Russland aus in ein ukrainisches Grenzdorf eingedrungen und haben zwei Einwohner erschossen. Die Soldaten hätten am Samstagmorgen bei einer „Sabotage- und Aufklärungsmission“ einen Mann und eine Frau im Dorf Andrijiwka „brutal erschossen“, teilte die Verwaltung der ukrainischen Region Sumymit. Gouverneur Wolodymyr Artjuch rief alle Bewohner des Grenzgebiets erneut auf, ihre Dörfer zu verlassen.
Anrijiwka liegt etwa vier Kilometer von der Grenze zur russischen Region Kursk entfernt. Es befindet sich innerhalb einer fünf Kilometer breiten Grenzzone, deren Bewohner von den ukrainischen Behörden bereits in der Vergangenheit aufgefordert wurden, sich vor russischen Angriffen in Sicherheit zu bringen.
Bei weiteren russischen Angriffen im Osten und Süden der Ukraine wurden laut Behördenangaben vom Samstag drei Zivilisten getötet. Ein Bewohner des Dorfes Beryslaw in der südlichen Region Cherson wurde demnach durch eine Angriffsdrohne getötet, die beiden anderen wurden Opfer eines Artillerieangriffs in der Region Donezk.
Moskau äußerte sich zunächst nicht zu den Vorwürfen. Seit Beginn seines Angriffskriegs gegen die Ukraine vor bald zwei Jahren behauptet es aber allen Gegenbeweisen zum Trotz, keine Zivilisten anzugreifen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit Kriegsbeginn mindestens 10.000 Zivilisten in der Ukraine getötet. (afp) |
Kyjiw kritisiert Moskaus Angaben zu Il-76-Absturz
Die Ukraine hält die von Russland zum mutmaßlichen Abschuss der militärischen Transportmaschine Il-76 bisher vorgelegten Angaben für nicht stichhaltig. Es gebe weiterhin keine Beweise dafür, dass an Bord der am Mittwoch in Belgorod abgestürzten Iljuschin tatsächlich 65 Kriegsgefangene gewesen seien, sagte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow. Laut einer am Freitag veröffentlichen Mitteilung des Koordinierungsstabes für den Austausch von Kriegsgefangenen stellte Russland nach langem Hinhalten eine Liste mit Namen zur Verfügung. Unklar ist demnach aber weiter, ob diese Menschen in der Il-76 waren.
„Derzeit gibt es keine Informationen, die darauf hindeuten würden, dass so viele Menschen in diesem Flugzeug gewesen sein könnten“, sagte Budanow. Demnach hatte der ukrainische Koordinierungsstab ein Treffen abgehalten mit Angehörigen und Freunden von Kriegsgefangenen. Russland habe zwar eine Liste mit Kriegsgefangenen überreicht, auf der auch die Namen von 65 Soldaten gestanden hätten, die für einen Austausch am 24. Januar vorgesehenen waren. Aber ihr Schicksal ist demnach weiter ungeklärt.
Die Version der russischen Propaganda werfe immer noch viele Fragen auf, sagte Budanow. Die Ukraine forderte eine internationale Untersuchung zu dem Absturz und dazu, „wer oder was tatsächlich in diesem Flugzeug transportiert wurde“. Vermutet wird in Kiew, dass Russland die Il-76 in Wahrheit zum Transport von Raketen genutzt habe. Unter den 74 Toten waren nach russischen Angaben auch 9 russische Besatzungsmitglieder.
Das russische Ermittlungskomitee hatte am Freitag Videos mit Bildern von Leichen und einem Flugzeug veröffentlicht. Die Aufnahmen zeigen Ermittler auf einem Trümmerfeld, die dort etwa einen Leichensack schließen und auch Tätowierungen auf Körperteilen zeigen. Zu sehen sind zudem ukrainische Dokumente mutmaßlicher Kriegsgefangener. Ein anderes Video zeigt auch ein Flugzeug, zu dem Transporter fahren. Laut Behörden soll das belegen, dass die ukrainischen Kriegsgefangenen die Maschine vor dem Abschuss bestiegen haben.
Von unabhängiger Seite waren die Videos zunächst nicht überprüfbar. Russland dürfte damit Zweifel der Ukraine entkräften wollen, dass an Bord der Iljuschin bei ihrem Absturz am vergangenen Mittwoch wirklich Kriegsgefangene waren. Die eingesammelten Leichenteile sollen genetisch untersucht werden, um die bei dem Absturz getöteten Menschen identifizieren zu können, hieß es. Laut den russischen Ermittlern wurde die Maschine von einem Flugabwehrsystem im ukrainisch kontrollierten Ort Lypzi im Gebiet Charkiw abgefeuert.
Kremlchef Wladimir Putin hatte zuvor in einer ersten öffentlichen Reaktion gesagt, der ukrainische Militärgeheimdienst habe von dem Transport für einen Gefangenenaustausch gewusst. Die Iljuschin sei entweder absichtlich oder durch einen Fehler vom US-System Patriot oder von einem europäischen System – „am ehesten einem französischen“ – abgeschossen worden, sagte Putin. In einigen Tagen werde das nach Untersuchung der Raketenreste klar ein.
Russland führt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit fast zwei Jahren. Die Ukraine verteidigt sich mit westlicher Militärhilfe, darunter Flugabwehrsysteme etwa vom Typ Patriot, gegen die russischen Angriffe. Von der Region Charkiw aus wird das russische Gebiet Belgorod seit Monaten immer wieder beschossen. (dpa) |
Biden drängt zu Kompromiss-Deal für Ukraine-Hilfe
US-Präsident Joe Biden hat den Kongress im Ringen um neue Ukraine-Hilfen zur Verabschiedung eines Kompromissvorschlags aus dem Senat gedrängt. Im überparteilichen Entwurf sollen strengere Maßnahmen zur Eindämmung der irregulären Migration über die Südgrenze mit frischen Finanzmitteln für Kyjiw verknüpft werden. Die Vorschläge stellten das „härteste und fairste Reformpaket zur Sicherung der Grenze dar, das wir je in unserem Land hatten“, hieß es in Bidens Erklärung vom Freitagabend. (ap) |
Rheinmetall lobt schnellere Beschaffungsprozesse
Der Chef des Rüstungskonzerns Rheinmetall, Armin Papperger, hat sich zufrieden mit der von der Bundesregierung ausgerufenen Zeitenwende gezeigt und schnellere Beschaffungsprozesse gelobt. „In der militärischen Beschaffung hat sich sehr viel zum Guten verändert. Der Kanzler, der Verteidigungsminister und die Spitze des Beschaffungsamtes haben alle Hebel in Bewegung gesetzt“, sagte Papperger der „Bild“-Zeitung vom Samstag.
Allein Rheinmetall habe im vergangenen Jahr von der Bundesregierung Aufträge beziehungsweise Rahmenverträge in Höhe von mehr als 10 Milliarden Euro bfür die Bundeswehr und die Ukraine bekommen. Im laufenden Jahr werde sich diese Summe auf mindestens 15 Milliarden Euro erhöhen, sagte Papperger weiter. „Das Tempo ist hoch: Was früher zehn Jahre gebraucht hätte, wird heute in ein paar Monaten durchgeboxt.“
Der Rheinmetall-Chef kündigte an, der Konzern werde „in Rekordzeit eine neue Munitionsfabrik in Deutschland bauen, um strategische Versorgungssicherheit zu schaffen“.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine im März 2022 als Zeitenwende bezeichnet und ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen angekündigt. Dieses soll die über Jahre zusammengesparte Bundeswehr wieder fit für die Landes- und Bündnisverteidigung machen. Aus dem Sondertopf werden umfangreiche Rüstungskäufe finanziert. Gleichzeitig unterstützt Deutschland die Ukraine gemeinsam mit seinen Verbündeten massiv mit Waffen und militärischem Material. (afp) |
Ukrainische Familien bangen um Kriegsgefangene
Nach dem Absturz eines russischen Militärflugzeugs überziehen sich Russland und die Ukraine gegenseitig mit Vorwürfen. Dabei ist eines klar: die Angst von Familien, dass künftige Gefangenaustausche gefährdet sein und ihre Liebsten inhaftiert bleiben könnten.
Russische Regierungsvertreter beschuldigen Kyjiw, die Transportmaschine am Mittwoch abgeschossen zu haben. Sie erklärten, an Bord seien 54 ukrainische Kriegsgefangene auf dem Weg zu einem Gefangenentausch gewesen. Nach ukrainischer Darstellung dagegen gibt es keine Hinweise auf Kriegsgefangene. Allerdings sei am Mittwoch ein Austausch geplant gewesen. Keine der beiden Seiten hat Beweise für ihre Anschuldigungen vorgelegt. Angehörige bleiben daher ratlos zurück. Viele von ihnen lebten bereits vor dem Zwischenfall in großer Sorge, weil sie von ihren Verwandten in Gefangenschaft seit Monaten nichts gehört haben.
Der Bruder von Jewhenija Synelnyk etwa wurde vor mehr als eineinhalb Jahren gefangen genommen. Seine Schwester verfolgte am Mittwoch in Sorge und Verzweiflung die widersprüchlichen Nachrichten. „Man weiß nicht, was davon wahr ist“, sagt sie. Am nächsten Tag setzte bei ihr Erschöpfung ein. „Ich habe keine Kraft mehr, um Tränen zu vergießen“, sagt sie mit müder Stimme.
Synelnyk gehört der Vereinigung der Familien von Azovstal-Verteidigern an. Diese war im Juni 2022 gegründet worden, kurz nachdem sich etwa 2500 ukrainische Soldaten während der russischen Belagerung des Stahlwerks Azovstal in Mariupol auf Weisung des ukrainischen Präsidenten Wolodymr Selenskyj ergeben hatten. Nach Angaben der Vereinigung befinden sich noch etwa 1500 der Kämpfer in Gefangenschaft. Tausende weitere, die in anderen Gefechten gefangen genommen wurden, werden laut ukrainischen Angaben ebenfalls in Russland festgehalten.
Nach Angaben von Jewhenija Synelnyk wächst die Sorge von Angehörigen, weil zurückkehrende Kriegsgefangene von Folter und Misshandlungen berichten. Nun befürchteten zudem viele, dass die Gefangenenaustausche zum Erliegen kommen könnten. Zurückkehrende Soldaten teilten üblicherweise alle Informationen, die sie über andere Gefangene hätten, mit deren Familien. Sie habe zuletzt vor einem Jahr etwas über ihren Bruder gehört, sagt Synelnyk.
Am Mittwoch unterstützten die Angehörigen sich gegenseitig. „Wir sind zusammen, wir müssen stark bleiben, weil wir keine andere Wahl haben“, erklärt Synelnyk. Die Familien seien entschlossen, weiterhin Kundgebungen zu organisieren: „Solange es Aufmerksamkeit für diese Menschen gibt, sind sie dort noch am Leben.“
Der ehemalige Kriegsgefangene Illja, der seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, besucht die Demonstrationen jede Woche. Das sei das Mindeste, was er für die Gefangenen tun könne, sagt der 21-Jährige. Er erinnert sich lebhaft an seinen letzten Tag in der Strafkolonie in Kamensk-Schachtinski in der russischen Region Rostow. Es war der 15. Februar 2023, an dem sein Name laut vorgelesen wurde. Bis dahin wusste Illja nicht, dass er auf der Liste für einen Austausch stand.
Zusammen mit einer Gruppe anderer Kriegsgefangener wurde er drei Stunden lang in einem Fahrzeug und später mit verbundenen Augen etwa vier weitere Stunden in einem Flugzeug transportiert. Bei einer Zwischenlandung stiegen weitere Kriegsgefangene in die Maschine. Der Transport endete mit einer vierstündigen Busfahrt zu einem Treffpunkt.
„Die Gefühle kann ich nicht in Worte fassen, aber ich werde das nie vergessen“, sagt Illja über den Moment, in dem ihm seine Freilassung bewusst wurde. Trotz einer Reha nach seiner Rückkehr verfolgen ihn die Erinnerungen an seine zehnmonatige Gefangenschaft noch immer. Seit kurzem leidet er an Gewichtsverlust, ohne dass die Ärzte den Grund dafür finden. Inzwischen wiegt Illja nur noch 44 Kilogramm.
Er glaubt auch, dass der Flugzeugabsturz künftige Austauschaktionen gefährdet, was die Hoffnungen vieler in Gefangenschaft zerstören würde. Teil eines Gefangenaustauschs zu sein, sei „der Traum jedes Kriegsgefangenen“, sagt Illja. (ap) |
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