Wenn die Kinder rechts werden

Die Initiative „Eltern gegen rechts“ berät Mütter und Väter von Kindern in der rechten Szene. Jetzt hat der Verein erstmals eine Broschüre herausgegeben. Was fehlt, sind die Geschichten der Eltern

VON SIMONE SCHMOLLACK

Auch in ihrer größten Not wandte sie sich nicht ans Jugendamt. Die geben doch mir die Schuld und nehmen mir meine Kinder weg, fürchtete Sabine Friedrich (Name geändert). Das ist zehn Jahre her, inzwischen kann sie darüber sprechen. Vor der Presse jedoch hält sie sich zurück. Sabine Friedrich hat ein Problem, von dem sie glaubte, dass es sie niemals trifft: Ihre beiden Söhne gehören der rechten Szene an.

Ihr erster Sohn war in der Pubertät, als er seine Turnschuhe gegen Springerstiefel tauschte und ein übertriebenes Nationalbewusstsein entwickelte. „Ich erkannte meinen Sohn nicht wieder“, sagt Sabine Friedrich. Werte, die sie ihm vermittelt hatte – Demokratieverständnis, Toleranz und Akzeptanz gegenüber Fremden –, galten plötzlich nicht mehr. „Das war ein Trauma“, sagt sie. Sie hatte schlaflose Nächte, aber sie versuchte sich zu beruhigen: Das vergeht wieder. Erst als auch ihr zweiter Sohn, heute 19, vor einigen Jahren seinem Bruder folgte, wusste sie, dass sie professionelle Hilfe braucht.

Sie suchte lange, bis sie jemanden fand, dem sie vertraute. Die Schule wiegelte ab, sie sei eine Bildungs- und keine Erziehungseinrichtung. Dann traf sie in Lichtenberg auf die Sozialarbeiterin Eva Prausner und „Licht-Blicke“, ein Netzwerk für Demokratie und Toleranz. Eva Prausner führte Sabine Friedrich mit anderen betroffenen Eltern zusammen. Seitdem weiß die Angestellte: Ich bin nicht allein mit meinen Selbstvorwürfen, Ängsten, mit meiner Wut.

Vor vier Jahren gründeten die Mütter und einige Väter die Initiative „Eltern gegen rechts“, Eva Prausner leitet die Gruppe. Sie trifft sich in einer ausrangierten Kita in Hohenschönhausen, derzeit kommen acht Frauen. Es ist bundesweit das einzige Projekt, das so intensiv und so lange mit betroffenen Eltern arbeitet. Heute sind nur noch Mütter dabei. „Männer wollen nicht lange reden, die wollen eine schnelle Lösung“, sagt Sabine Friedrich. Doch die gibt es nicht.

Verschiedenen Studien nach sollen inzwischen bundesweit 35 Prozent der Jugendlichen rechtes Gedankengut in sich tragen. Die meisten sind nicht organisiert und nicht kriminell. Sie sagen aber offen, dass sie Ausländer und Juden hassen, sie leugnen die Verbrechen der NS-Zeit. Etwa 10 Prozent sind in der Szene aktiv, beispielsweise in Jugendgruppen rechtsradikaler Parteien wie der NPD. Sie managen rechte Demos, verteilen Plakate und Flugblätter. „Die Jugendlichen finden in diesen Gruppen eine Ersatzfamilie“, sagt Eva Prausner.

Warum gleiten Kinder aus normalen Familien mit einem demokratischen Erziehungsstil in die rechte Szene ab? Darüber gibt es zahlreiche Theorien. Birgit Rommelspacher, Professorin an der Alice-Salomon-Fachhochschule und Autorin des Buches „Der Hass hat uns geeint“, beschreibt mehrere Faktoren: die Peer Group, Musik, Kleidung, Abenteuerlust, Idealismus. Die Familie sei nie allein ausschlaggebend. Aber: Untersuchungen zufolge gelten 12 Prozent der Bevölkerung als rechts, die Hälfte der Bundesbürger soll „Überfremdungsängste“ haben.

Was kann man betroffenen Eltern raten? „Ich habe meine Söhne nie aufgegeben“, sagt Sabine Friedrich. „Das war schwer, weil ich oft gedacht habe: Das ist doch nicht mein Kind.“ Trotz ihrer Ambivalenz habe sie immer das Gespräch gesucht und nie mit Verboten reagiert. „Das ist wichtig“, sagt sie. „Sonst entziehen sich die Kinder vollständig und die Eltern kommen nie wieder an sie heran.“

Sabine Friedrich, Eva Prausner und die anderen Mütter haben jetzt eine Broschüre herausgegeben. Der bundesweit einzige Ratgeber von Eltern für Eltern wurde am Montag auf einer Fachtagung vorgestellt. Vorhandene Materialien von Experten erreichten die Eltern oft nicht, weil sie an deren Erfahrungen vorbeigeschrieben sind.

Das 18-seitige Heft mit dem Titel „Eltern gegen rechts“ enthält neben den ersten Anzeichen, Auswirkungen auf das Familienleben, Reaktionen des Umfeldes und Überlegungen zu den Ursachen Tipps zum Umgang mit den Jugendlichen: Wie spricht man sie am besten an? Wie können Eltern sie trotz allem positiv beeinflussen? Im Anhang finden sich zahlreiche Kontaktadressen.

Was fehlt, sind die eigenen Geschichten der Mütter. Darauf sei bewusst verzichtet worden, sagt Sabine Friedrich: „Wir wollten nicht damit stiften gehen. Außerdem wiederholen die sich.“

Die Broschüre „Eltern gegen rechts“ gibt es über: Initiative „Eltern gegen rechts“ beim Netzwerk „Licht-Blicke“. www.elterngegenrechts.de