Extreme Rechte in Russland: Selfie vor der Leiche
In einem Moskauer Vorort ersticht ein Neuntklässler in einer Schule einen zehnjährigen Tadschiken. Seine rassistischen Ansichten vertrat er offen.
Timofej K. betritt am vergangenen Dienstag frühmorgens das Schulgebäude im Moskauer Vorort Gorki-2. Der 15-Jährige will nicht zum Unterricht, sondern sucht nach der Vertretung seiner Klassenlehrerin, „so eine Dunkle“. Sie kamen nicht gut miteinander aus, die Noten des Neuntklässlers ließen zu wünschen übrig. Timofej K. filmt seine vergebliche Suche mit einer Kamera. Eine andere Lehrerin verweist ihn an den Wachschutz. Er entgegnet, er habe noch nichts getan, sei ein Volltrottel, ihn erwarte lebenslängliche Haft.
Dann trifft er auf eine Gruppe Kinder aus den unteren Jahrgängen. „Welche Nationalität habt ihr?“, fragt er sie. Von hinten nähert sich ein Wachmann und fordert Timofej K. auf, sein Messer abzugeben. Doch der greift den Mann an, verletzt ihn und sprüht ihm Tränengas ins Gesicht. Die Kinder laufen weg, der 10-jährige Kobildschon A. schafft es nicht. Timofej K. sticht so lange zu, bis der Junge tot ist und macht anschließend ein Selfie vor der Leiche.
Dieser wahr gewordene Alptraum müsste die russische Gesellschaft bis ins Mark erschüttern. Da das Opfer jedoch aus einer tadschikischen Familie kommt, hält sich das Mitgefühl in Grenzen. Kobildschons Mutter arbeitet als Reinigungskraft in der Schule, sein Zwillingsbruder besucht, wie Kobildschon selbst, die vierte Klasse. Der Vater starb vor einem Jahr.
Jene Schule befindet sich unweit der westlich von Moskau gelegenen Elitesiedlung Barwicha. In der Gegend wohnen auch weniger betuchte Leute, wie die Eltern des Täters. Anfang der nuller Jahre waren sie in einer Gesundheitseinrichtung der Präsidialverwaltung beschäftigt. Jetzt ist der Vater selbstständig, die Mutter arbeitet als Krankenschwester. Mitschüler:innen beschrieben Timofej K. als unauffällig, er habe häufig Witze über Nazis gemacht. Die letzten Wochen vor der Tat sei er dem Unterricht ferngeblieben.
Menschenverachtende Aufschrift
Dass das Nazi-Thema im Umfeld des Neuntklässlers so beiläufig auftaucht, macht stutzig. Auf seinem T-Shirt, das Timofej K. während seines tödlichen Auftritts in der Schule trug, prangte nicht zufällig „No lives matter“ (Kein Leben zählt). Im russischen sozialen Netzwerk VKontakte präsentierte er sich in Schutzweste mit der gleichen menschenverachtenden Aufschrift.
Seinen Helm hatte er mit dem Kürzel SYGAOWN beschriftet, was für „Stop Your Genocide Against Our White Nations“ (Stoppt euren Völkermord an unseren weißen Nationen) steht. Außerdem findet sich darauf der Satz „Well I had to do it because somebody had to do something“ (Nun ja, ich musste es tun, weil irgendjemand etwas tun musste) – angelehnt an den US-amerikanischen Massenmörder Dylann Roof, der 2015 neun schwarze Gläubige in einer Kirche in Charleston erschossen hatte.
Vor der Tötung des tadschikischen Jungen soll Timofej K. in der Toilette einen Sprengsatz zusammengebaut haben, um ihn in einem der Schulräume zu platzieren. Wäre dieser Plan aufgegangen, hätte er noch mehr Menschen getötet. Nur wenige Tage zuvor hatte er an Klassenkamerad:innen ein Manifest mit dem Titel „Meine Wut“ verschickt.
Auf elf Seiten lässt er sich aus der Position eines radikalen weißen christlichen Kämpfers gegen „Rassenvermischung“ aus. „Die minderwertigen Rassen sind definitiv Feinde der Weißen und Europas insgesamt“, heißt es da. Und: „Es gibt keine andere Möglichkeit, gegen die Besatzer vorzugehen, als Massenmorde.“ Muslime, Juden, Liberale, LGBT – sie alle gelte es zu bekämpfen.
Rechtsextreme Foren
Um solch ein Hasspamphlet zu verfassen, musste der Autor nicht lange nach Formulierungen suchen. Die vergangenen anderthalb Jahre schien er viel Zeit in einschlägigen rechtsextremen Foren verbracht zu haben. Dort hielt er sich auch mit Kommentaren nicht zurück. Muslime, so eine seiner hetzerischen Behauptungen, würden tagtäglich auf offener Straße in anderen Ländern wahllos Menschen niederstechen. Und er agitierte für Massenerschießungen.
Es ist bezeichnend, dass der russische Strafverfolgungsapparat mit großer Vehemenz das russische Internet nach staatskritischen Aussagen oder Sympathiebekundungen für die Ukraine durchforstet und dafür sorgt, dass reihenweise Haftstrafen gegen Oppositionelle verhängt werden. Oft reicht nur ein kurzer Blogbeitrag mit Verweis auf Verbrechen der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Auch auf islamistische Strukturen wird der Apparat angesetzt, aber die potenziell tödliche rassistische Weltanschauung eines 15-Jährigen will anscheinend niemand bemerkt haben. Im vergangenen April hatte ein 14 Jahre alter Jugendlicher ebenfalls aus rassistischen Motiven in einem Moskauer Vorort einen Jungen aus Kirgistan getötet.
Die russische extreme Rechte versucht aus dem Mord an der Schule Kapital zu schlagen. Allen voran die „Russische Gemeinschaft“, die derzeit wohl größte rechtsextremistische Gruppierung in Russland. Mit landesweiten Anlaufstellen tritt die Bewegung als streng orthodoxe alternative Ordnungsmacht gegen Migrant:innen auf.
Ihre Mitglieder patrouillieren auf Straßen und haben mit dem Chef des russischen Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin einen strammrechten Fürsprecher in der politischen Führungsriege. Die „Russische Gemeinschaft“ bietet sich nun an, die patriotische Erziehung Jugendlicher in die Hand zu nehmen. Wer russischen Patrioten die Schuld an dem jüngsten Mord anhängen wolle, sei ebenso „Abschaum wie der Mörder“.
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