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Die soziale RentenkluftRentenreform trifft vor allem die Armen

Kommentar von

Philipp Portz

Die Ärmeren arbeiten härter und sterben früher. Sie schaffen es schon jetzt kaum bis zum offiziellen Renteneintrittsalter. Eine Anhebung träfe sie doppelt.

Wer besser lebt, lebt länger, weniger Privilegierte sterben früher Foto: Aida López/imago

M an muss kein Volkswirt sein, um die Schieflage zu erkennen, die entsteht, wenn Menschen länger leben und gleichzeitig weniger Kinder bekommen. Immer weniger Arbeitnehmer zahlen die Rente für immer mehr Rentner. Bei mehr als 115 Milliarden Euro Zuschuss für die Rentenkasse – immerhin ein Viertel des Bundeshaushalts – müssen Reformen der Rente als mögliche Sparmaßnahme zur Bekämpfung der immer weiter klaffenden Haushaltslöcher mitdiskutiert werden.

Die naheliegende Lösung: eine Anpassung des Renteneintrittsalters. Ist es angesichts des finanziellen Drucks nicht einleuchtend – vielleicht sogar fair – wenn der „Arbeitsanteil am Leben“ konstant gehalten wird? Auch die Junge Union sieht mit ihrer aktuellen Revolte hier eine Chance, die Rente im Sinne der Generationengerechtigkeit zu retten.

Wagt man jedoch den Exkurs in die Statistik, drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Vorschlag Generationengerechtigkeit auf Kosten sozialer Gerechtigkeit erkauft. Denn die Forderung nach einer Anpassung des Renteneintrittsalters blendet entscheidende Details aus: Wir altern nicht alle gleich und werden auch nicht alle gleichermaßen älter. Langlebigkeit ist in Deutschland ungleich verteilt – entlang von Bildung, Einkommen, Beruf und Wohnort.

Philipp Portz

ist Arzt und sieht im klinischen Alltag ständig, wie ungleich Gesundheit und Altern verteilt sind – und wie früh der sozioökonomische Hintergrund seine Spuren hinterlässt.

Wer besser lebt, lebt länger, weniger Privilegierte sterben früher. So können sich die sozial Stärksten bei einem Renteneintritt mit 70 über durchschnittlich 18 Jahre Ruhestand freuen. Die sozial Schwächsten hingegen können nur mit etwa 10 Jahren rechnen.

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Überproportional viele Arme erreichen das Rentenalter nicht

Gleichzeitig stagniert die Lebenserwartung der Ärmsten nicht nur, sie ist in den vergangenen Jahren sogar gefallen. Entsprechend weitet sich die soziale Kluft des Alterns immer mehr aus: Lag 2003 der Unterschied in der Lebenserwartung bei Männern zwischen den Privilegiertesten und den am wenigsten Privilegierten noch bei 5,7 Jahren, waren es 2020 schon 7,2 Jahre. Dieser Trend wird sich mit der zunehmend weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich und privatisierten Gesundheitstrends wie dem Longevity-Hype in den nächsten Jahren vermutlich nur verschlimmern.

Zu allem Übel kommt hinzu: Selbst die mittlere Lebenserwartung der Subgruppen vereinfacht noch zu stark und spiegelt nicht das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit wider. Denn die Lebenserwartung sozial besser gestellter Menschen weicht in der Regel nicht weit vom Durchschnitt ihrer Gruppe ab. Statistiker sprechen von einer „geringen Standardabweichung“.

Dagegen kommt es unter weniger gut situierten Bürgern häufig vor, dass sie deutlich jünger sterben, als es ihre Lebenserwartung vorhergesagt hätte (große Standardabweichung). So ist die Unsicherheit, wann man verstirbt, unter weniger Privilegierten deutlich höher und die Rentenzeit damit weniger planbar als bei privilegierteren Bürgern.

Diese mathematischen Übungen wirken abstrakt. In der Realität bedeuten sie aber, dass unter der niedrigsten Einkommensgruppe jetzt schon fast doppelt so viele Menschen verfrüht versterben (also vor dem 65. Lebensjahr) wie unter denjenigen mit den höchsten Einkommen (bei Männern 27 Prozent gegenüber 14 Prozent, bei Frauen 13 Prozent gegenüber 8 Prozent).

Je weniger Einkommen, desto seltener private Vorsorge

Eine Anhebung des Renteneintrittsalters würde die sozial Schwächsten entsprechend deutlich härter treffen als die sozial Stärksten der Gesellschaft. Überproportional viele Menschen dieser Gruppe werden die Rente nie erreichen oder einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer potenziellen Rentenzeit verlieren.

Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit von der Rente entlang des gleichen Gefälles verteilt ist: Knapp 55 Prozent der weniger Privilegierten sind voll auf die Rente angewiesen und haben keine andere Altersvorsorge. Dagegen haben mehr als 80 Prozent der sozial Stärkeren noch eine zusätzliche Altersvorsorge.

Eine Anhebung des Renteneinstiegsalters wirkt regressiv, sie belastet die Armen mehr als die Reichen. Durch eine Anhebung des Renteneintrittsalters würde zudem eine Gruppe besonders hart getroffen, die unter den sozial Schwächeren überproportional vertreten ist: Menschen, die körperlich schwere Arbeit leisten. Wer Jahrzehnte in der Pflege, auf dem Bau oder in anderen körperlich belastenden Berufen gearbeitet hat, kann irgendwann schlicht nicht mehr – und entscheidet sich oft trotz des hohen Risikos von Altersarmut für die Frührente.

Diese Besonderheit könnte Ursache eines paradox wirkenden Trends sein: Unter den ärmeren Bevölkerungsgruppen ist der Anteil derjenigen, die vorzeitig in den Ruhestand gehen, deutlich höher. Andererseits ist diese Realität vielleicht auch ein Spiegel der bitteren Realität der Altersungerechtigkeit. Da wir zunehmend in unserer Bubble verkehren, erleben ärmere Menschen häufiger, wie Verwandte und Bekannte verfrüht sterben und dass ein ausgedehnter Ruhestand selten ist. Die Vorstellung, bis 67 oder gar 70 zu arbeiten, wirkt folglich nicht wie ein langfristiger Plan, sondern wie ein riskantes Glücksspiel.

De facto droht eine deutliche Rentenkürzung für Ärmere

Wer über die Reform der Rente diskutiert, sollte diese Unterschiede deshalb mitdenken. Das Anheben des Renteneintrittsalters kann eine ungewollte Umverteilung von Arm auf Reich zur Folge haben. Denn all jene, die einen gut bezahlten Bürojob haben und bis zum Schluss arbeiten können, bekommen eine 100-Prozent-Rente für einen höchstwahrscheinlich ausgedehnten Ruhestand.

Wer jedoch seit seinem 16. Lebensjahr beispielsweise in der Altenpflege, im Handwerk oder in der Produktion arbeitet, schafft es in sehr vielen Fällen nicht ohne Abschläge in die Rente, kann sie weniger Jahre genießen oder erlebt den Ruhestand vielleicht nie.

Was auf dem Papier als reiner Inflationsausgleich des Älterwerdens erscheint, bedeutet in der Lebenswirklichkeit für viele Menschen eine faktische Kürzung ihrer ohnehin knappen finanziellen Mittel und ihrer Lebenszeit im Ruhestand.

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14 Kommentare

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  • Danke für den Kommentar.

  • Gerd Grözinger , Autor , Prof., Europa-Univ. Flensbu

    Der soziale Gradient bei der Sterblichkeit (so der Fachausdruck) bedeutet letztlich, dass im Alter die Geringverdiener die Besserverdiener implizit subventionieren. Deshalb habe ich als pragmatische Lösung vorgeschlagen (darunter in der taz am 8.10 2023), dass über eine längere Periode weg Rentensteigerungen nur zur Hälfte als Prozentgröße, zur anderen Hälfte als Grundbetrag ausgezahlt werden sollten. Damit knüpfte man an eine gewerkschaftliche Solidar-Tradition an, wo Tarifverträge häufig so ausgestaltet sind. Und bei der Bekämpfung der Frauenaltersarmut käme man auch einen guten Schritt voran.

  • Ja, wir sterben höchstwahrscheinlich alle mal, auch wenn wir uns das Gegenteil täglich vorspielen. Doch gehört es wohl zur Gerechtigkeit, dass nicht nur bei Art, sondern auch bei Länge des Lebens die Unterschiede nicht derart krass werden. Und sonst ist die Rente da eine Umverteilung von Arm zu Reich (Vergessen wir übrigens neben der Rente Pensionen, Einkünfte,... nicht und auch nicht die ausufernden "Minijobs" auf Kosten der Sozialsysteme).



    Zurück aber zu Lebenserwartung: Ansätze wären Übergang zur Einheitskrankenkasse (keine Deckelungen), Rad statt Auto fördern, Gemüse statt Industriefleisch und Zucker fördern. Also gegen gewisse Lobbys gegenhalten, statt dort zu dienern.

  • Alle müssen in die Rentenkasse einzahlen, Politiker, neue Beamte und Selbständige auch. Es darf nicht sein, dass die Arbeiter mickrige 48 % Rente bekommen und Beamte üppige 71 %. Erst wenn das umgesetzt ist wird es gerechter werden. Politiker haben doch momentan wenig Interesse die Renten anzuheben, sie sind ja nicht selbst betroffen und bekommen ja beamtenähnliche Ruhegehälter.

  • Ich bin selbst auch der Meinung, dass Menschen in körperlich belastenden Berufen nicht bis 70 arbeiten können und dass es keiner von ihnen verlangen sollte, wenn es irgendwie zu vermeiden ist.



    Was die geringere Lebenserwartung, der sozial Schwächeren angeht, sind sozioökonomischer Stress und körperliche Arbeit aber nur zwei von vielen Ursachen. Die anderen sind von den Betroffenen oft auch selbst verursacht. Alles davon statistisch nachweisbar: Man raucht mehr, nimmt Vorsorgeuntersuchungen weniger in Anspruch, ernährt sich ungesünder (Zum Teil mag das finanziell bedingt sein, zum Teil aber nicht: wer minimal recherchiert, findet viele Speisen, die gesund und günstig sind, zum Beispiel mit Hülsenfrüchten).



    Es ist nicht ganz leicht, der Gesellschaft an diesen Faktoren die Schuld zu geben. Zumal Kampagnen zur Gesundheitsförderung oft ins Leere laufen. („Die wollen uns unser… wegnehmen!“)

    • @Helene10:

      Hallo Helene10, gehe ich recht in der Annahme dass sie nicht zu der Gruppe der Menschen gehören, die "schwerere" Arbeiten verrichten und auch nicht zu den, wie sie sie nennen, sozial schwächeren Menschen? Ich gehöre zu diesen Menschen und ich fühle mich durch ihren Kommentar von oben herab angesehen. Ich möchte so nicht angesehen werden. Darum mache ich darauf aufmerksam.

  • Dem ist nichts hinzuzufügen. So isses. Danke ! Es gibt auch CDU Wähler die körperlich schuften bin gespannt wie Merz das regelt.

  • Schon in der Einleitung ist viel leider falsch.



    Die Rente macht nur noch 9,3% des BIP aus, ehemals 10,8%. Der Bundeszuschuss macht nur noch 2,6% des BIP aus ehemals 3,5%.

    Haushaltlöcher gibt es auch keine sondern politischen Streit darüber in welchen Teilen die private Ersparnis (Circa 300Mrd € p a.) durch deutsche oder aber durch ausländische Staatsverschuldung (Exportüberschuss) ermöglicht werden soll.

    Da klafft nichts und für die Rente ist nicht das Verhältnis von Arbeitnehmer zu Rentner entscheidend sondern das BIP. Ein Arbeitnehmer heute zahlt eben weit mehr ins BIP als früher zwei Arbeitnehmer.

    Es ist wirklich schade dass sich viele Journalisten nichtmal die grundlegenden Zahlenverhältnisse anschauen.

    • @SPD-Versteher:

      Sie haben recht, das Alterssicherungssystem in seiner Gesamtheit wird der veränderten Vermögens- und Einkommensverteilungslandschaft schlichtweg nicht gerecht. Die Alterssicherung kann - wie auch Gesundheit und Pflege - nicht länger so stark wie bisher aus Arbeitseinkommen generiert werden und damit steigende leistungslose Einkommen/Kapitalgewinne und Produktivitätszuwächse ausblenden. Nur wenn man grundlegend an das Alterssicherungssystem ran geht, also an den Kreis der Einzahlenden und die verschiedenen Einkommensarten, und außerdem noch versicherungsfremde Leistungen nicht länger der Rentenkasse aufbürdet und sie nur teilweise durch Steuerzuschüsse kompensiert, nur dann kommt man raus aus dem Dreieck des Schreckens aus Beitragshöhe, Rentenhöhe und Renteneintrittsalter. Und dann haben wir noch gar nicht über Ost-Rentner*innen geredet und den Skandal, dass erhebliche Kosten der Einheit auf die Rentenkasse abgeschoben wurden, damit Birne Kohl versprechen konnte: keine Steuererhöhungen (ist dann richtigerweise doch passiert, aber... Fußnote der Geschichte).

    • @SPD-Versteher:

      Ich bin nicht studiert. Aber zumindest das hat mir mal ein Volker Pispers auf der Bühne erklärt. Danke.



      Selbst was man als „Allgemeinwissen" werten sollte, findet den Weg nicht mal in die Schulen.

    • @SPD-Versteher:

      Wo ist hier denn bitte in der Einleitung etwas falsch? Ich glaube eher Sie haben falsch gelesen.



      Der Autor spricht von einem Viertel des Bundeshaushalt und nicht vom BIP. Das sind zwei verschiedene Dinge.



      Und das bereits 1/4 des jährlichen Bundeshaushalt zur Gestaltungsmacht direkt in die Renten fließt ist ein Riesen Problem. Denn gedacht war eigentlich, dass aus dem Bundeshaushalt gar keine Leistungen für Renten erbracht werden müssen.

      Tut mir leid Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihr Beitrag ist schlicht von vorne bis hinten falsch.



      Das BIP ist schlicht keine Rechengröße die hier angesetzt werden kann, denn der Bundeshaushalt entspricht nicht dem BIP.



      Der Bundeshaushalt beläuft sich aktuelle auf 445 Mrd, wovon 115 Mrd direkt für die Rente drauf gehen.



      Das ist so ungesund, dass ist ein Riesen Problem!

  • Schon wieder das Nachplappern der Sätze der Professorinnen. Wir haben in den letzten 50 Jahre auch eine sehr hohe Steigerung der Produktivität und eine sehr hohe Verdichtung der Arbeit gehab. Daher sind Vergleiche, die sich nur an der Menge der Beitragszahler und dem Lebensalter orientieren eher wenig hilfreich.

    Auch die Verengung auf die Zuschüsse zur Rentenkasse, ohne Betrachtung der Kosten für Renten für nicht ausreichend versicherte (Schein-)Selbstständige, für die jetzt noch höheren Familienzuschläge und Beihilfekosten für Beamte und deren Pensionen, für versicherungsfremde Leistungen, dh. Renten für Menschen, die nie einbezahlt haben, sind bei ihrer statistischen Betrachtung nicht berücksichtigt.

    Dass nur körperliche Arbeit erschöpft und im Alter schwieriger ist, kann nur jemand behaupten, der keine Ahnung hat, wie sehr auch rein "geistige" Arbeit erschöpfen kann, und wie auch in dem Umfeld ältere Mitbürger einem knallharten Konkurrenzkampf mit den "fitteren" jungen Menschen ausgesetzt sind. Im höheren Alter immer wieder Neues dazu zu lernen wird nicht einfach, aber als Selbstverständlichkeit angesehen.

    In der taz hätte ich einen weiteren Blick auf das Problem erwartet.

  • Wie viele von diesen sogenannte Christdemokraten (Union ist mir lieber als Bezeichnung) werden sich bei diesem Bericht denken "na, wenn die sowieso schon nicht bis zur Rente leben, dann kann man ja auch das Eintrittsalter hochsetzen und das Rentenniveau senken. Ist für die eh wurscht"?

  • Lieber reich und gesund als arm und krank – und wir brauchen eine ordentliche Vermögenssteuer.