Neue Serie „Pluribus“ bei Apple TV: Schwarm-Intelligenz statt Individuum
In Vince Gilligans neuer Serie sorgt ein Virus dafür, dass alle Menschen ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln. Es ist eine herausragende Horror-Satire.
Jetzt ist jede Individualität ausgelöscht: Ein aus dem Weltraum empfangenes Signal hat alle Menschen zu einem Kollektiv mit einem zusammenhängenden Bewusstsein gemacht – zumindest in der außergewöhnlichen Science-Fiction-Serie „Pluribus – das Glück ist ansteckend“ auf Apple TV. Für die zeichnet kein Geringerer als „Breaking Bad“-Macher Vince Gilligan verantwortlich.
Während jetzt alle gemeinsam denken, hat aber aus einem unerfindlichen Grund eine ihr individuelles Bewusstsein behalten: die aus Albuquerque stammende Schriftstellerin Carol Sturka (Rhea Seehorn). Die Menschen sind superfreundlich, fragen ständig, ob sie etwas für Carol etwas tun können, und trotzdem fühlt sie sich wie in einem schlechten Horrorfilm, wenn Wildfremde sie auf der Straße plötzlich im Chor mit ihrem Namen begrüßen.
Das globale Bewusstsein funktioniert als Organismus mit maximaler Effizienz, bei der alle einzelnen Aktionen perfekt aufeinander abgestimmt sind. Jeder kann plötzlich ein Flugzeug fliegen oder eine komplizierte OP durchführen. Sonst scheint die Welt eher stillzustehen. Das neue Menschenkollektiv führt weder Kriege, noch geht es arbeiten oder sich amüsieren. Alles ist auf die effiziente Reproduktion der eigenen Spezies ausgelegt.
„Pluribus – Glück ist ansteckend“, auf Apple TV
Die Geschichte von Menschen, die durch eine Alien-Invasion oder ein Virus verändert werden oder wie ausgetauscht wirken, ist fester Stehsatz der Science-Fiction und eine im Genre beliebte, immer wiederkehrende Horror-Erzählung. Schon 1956 wurde das in Don Siegels Film „Die Dämonischen“ durchexerziert, der ebenso wie „Die Körperfresser kommen“ von 1978 und das Remake von 1993 auf Jack Finneys Roman „The Body Snatchers“ basiert. In den 50ern diente das als ideologische Kalte-Kriegs-Erzählung, die veränderten Menschen waren dem Kommunismus verfallen. In den späten 70ern und den 90ern warnten die seltsam veränderten Menschen vor Autoritarismus und entgrenztem Kapitalismus. Eine so simple Lesart bietet sich für Vince Gilligans Serie „Pluribus“ aber erst einmal nicht an.
Der Neunteiler beginnt zwar in den ersten Episoden spannungsgeladen als unter die Haut gehendes Horror-Opus, wird dann aber zur wundervoll satirischen Komödie. Um sich mit Carol gut zu verstehen, nähert sich ihr das Kollektiv in Person von Zosia (Karolina Wydra), die wie die weibliche Version einer schnulzigen Piratenfigur aus Carols Fantasy-Romanen wirkt und zu der sich die queere Autorin sexuell hingezogen fühlt.
Gleichzeitig nimmt Carol zu einer Handvoll anderen Menschen Kontakt auf, die ebenfalls noch ihr individuelles Bewusstsein haben. Nur sind einige von ihnen, vor allem jene aus dem Globalen Süden, die nicht mehr unter Krieg, Verfolgung und Hunger leiden, dem neuen Status quo gar nicht abgeneigt. Ist das Kollektiv doch eine Chance? Vince Gilligan lässt genug Raum für solche Fragen und um Carols privilegierten weißen Mittelschichts-Blickwinkel auf den Prüfstand zu stellen.
Klar ist aber: Eine emanzipatorische Utopie ist das nicht, denn die bedarf immer eines individuellen Bewusstseins. Ist das Kollektiv, abgeleitet vom amerikanischen Wahlspruch „E pluribus unum“, dann vielleicht doch eine Allegorie auf den Faschismus, mit dem sich der Kulturbetrieb gerade intensiv beschäftigt, wie etwa im Kinofilm „The Change“, im neuen Opus von Thomas Pynchon oder in Jürgen Pettingers aberwitzigem Roman „Autochthon“? Wohin uns Vince Gilligan in seiner Serie nimmt, ist schwer abzusehen. „Pluribus“ ist auf zwei Staffeln angelegt und schon in den ersten Episoden jagt eine überraschende Wendung die nächste.
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