piwik no script img

Neuköllner MythosUh, du bist so Sonnenallee

Sie ist eine Straße der Projektionen, sie ist immer das, von dem du denkst, dass sie es nicht ist: die Sonnenallee. Eine Betrachtung in Wort und Bild.

Foto: Mathilde Tijen Hansen

Die Sonnenallee in Berlin-Neukölln ist für viele zu einer Art Symbolstraße geworden. Nicht wenige – auch der Verfasser dieses Artikels – haben der Allee ein Buch gewidmet, viele sprechen über sie und auch im fernen München und im Münsterland weiß man, was man hier zu erwarten hat.

Aber ist die Sonnenallee so, wie man sie sich vorstellt? Wer sind die Menschen, die dort leben, was machen sie? Ist die Straße mit touristischen Ravern und Zugezogenen aus dem Süden „überfremdet“? Wieso erkennt Opa Bolle seine Straße nicht mehr? Und lebt Opa Bolle noch, oder ist er nur eine Erfindung der Medien und der Politik? Oder, anders: Was ist die Sonnenallee?

Rückblende ins 19. Jahrhundert. Die „Straße 84“, wie sie damals heißt, ist in dem Städtchen Rixdorf eine Straße mit armer, bäuerlich geprägter Bevölkerung. Doch schon 1893, als sie, die damals vom Hermannplatz abzweigt und nur 300 Meter lang ist, in Kaiser-Friedrich-Straße umbenannt wird, beginnt ihr Aufstieg.

In Rixdorf ist „Musike“, die Stadt vor Berlin prosperiert wirtschaftlich und wird für die vergnügungssüchtigen Ber­li­ne­r*in­nen ein beliebtes Ausflugsziel. Was eben gerade erst erbaut worden ist, wird schon wieder abgerissen, um durch noch größere Häuser ersetzt zu werden. Auch an Länge nimmt die Straße zu, 1905 reicht sie schon bis zur Ringbahn und bekommt 1912 einen eigenen Bahnhof.

Zwei Jahre später wird die Brücke über den Neuköllner Schifffahrtskanal eingeweiht – doch der Abschnitt, der schließlich bis an den Treptower Baumschulenweg reichen sollte, heißt bald Sonnenallee und nicht Kaiser-Friedrich-Straße. Viele Fabriken sind in der Gründerzeit und vor dem Ersten Weltkrieg angesiedelt worden, viele Handwerkerfamilien sind sehr reich geworden, nach dem verlorenen Krieg jedoch und in den Jahren der Inflation schmelzen die Vermögen drastisch zusammen, daher wird das 1932 eröffnete Arbeitsamt Süd-Ost (unweit der heutigen A100) zum Ausgangspunkt vieler Auseinandersetzungen ums wenige Geld.

Mathilde Tijen Hansen, „Sonnenallee“

Die Fotografin

Mathilde Tijen Hansen wurde in Köln geboren und wuchs in Berlin auf, wo sie heute lebt und arbeitet. Sie studierte an der Ostkreuzschule für Fotografie und schloss ihr Studium 2024 ab. Tijen Hansen stammt aus einer deutsch-türkischen Familie, sie lebt seit zehn Jahren an der Sonnenallee.

Über die Arbeit

„,Sonnenallee' ist eine visuelle Langzeitstudie über einen urbanen Raum, in dem Migration, sozialer Wandel, Gentrifizierung, Geschichte und politische Konflikte aufeinandertreffen. Über mehrere Jahre habe ich die rund 3,8 Kilometer lange Sonnenallee immer wieder abgeschritten, um ihre Abschnitte präzise zu studieren. Die meisten Aufnahmen entstanden frühmorgens mit Stativ, um die Stille zu nutzen und Details sichtbar zu machen. Die Menschen habe ich gezielt angesprochen und verabredet, um Porträts anzufertigen. ‚Sonnenallee‘ erzählt von deutscher Stadtentwicklung und den Veränderungen, die diesen Ort bis heute prägen.“ (Mathilde Tijen Hansen)

Die Ausstellung

„Ich bin schön“, Pasinger Fabrik, München, mit Arbeiten der Ostkreuzschule für Fotografie Berlin und Werke der Studierenden der Klasse Anke Doberauer der Akademie der Bildenden Künste München, 5. 12. bis 29. 3., Vernissage: 4. 12., 19 Uhr

Rixdorf heißt jetzt Neukölln und wird 1920 nach Berlin eingemeindet, der Stadtteil bekommt – nachdem er zuvor einen schlechten Ruf als Amüsierviertel hatte – nun den Ruf, ein Bezirk der Proletarier, der Arbeitslosen, der „Roten“ zu sein. Schon vor den Nazis wird rassistisch über „Fremde“ geurteilt, besonders die Migration aus dem slawischen Raum wurde von Konservativen, aber auch von So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen misstrauisch beäugt.

Braunauer Straße

Es gibt sogar bereits Abschiebelager. Denn schon in der Weimarer Republik werden Arme und So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ge­r*in­nen vor allem als Ordnungsproblem betrachtet – es gelte, diese zu disziplinieren, glaubt etwa der sozialdemokratische Innenminister Wolfgang Heine Anfang der Zwanziger Jahre. Obschon es kaum Arbeitsplätze gibt, gilt als faul, wer keinen hat.

Wir kennen die weitere Geschichte – die Nazis werden gewählt und „ergreifen die Macht“, disziplinieren und verurteilen, verhaften und verjagen, beschlagnahmen – und bereiten alsbald einen Krieg vor.

Foto: Mathilde Tijen Hansen
Foto: Mathilde Tijen Hansen

Kaiser-Friedrich-Straße und Sonnenallee werden 1938 zur Braunauer Straße zusammengefasst, dem „Führer“ zu Ehren, der in Braunau am Inn geboren wurde. Eine Braunauer Allee darf sie nicht werden, die will Hitler in seiner Stadt Germania, zu der Berlin nach dem gewonnenen Weltkrieg umgestaltet werden soll, an anderer Stelle sehen. Der geplante Krieg wird begonnen – dass es bald Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen­be­hau­sun­gen und ein Frauen-KZ an der Braunauer Straße gibt, versteht sich schon fast von selbst.

Auch den Zweiten Weltkrieg verlieren die Deutschen. Die Stadt wird geteilt, auch die – nach dem Krieg nun auf ganzer Länge in Sonnenallee umbenannte Braunauer Straße. 400 Meter der fast fünf Kilometer langen Straße liegen in Treptow, nach dem Mauerbau wird es dort einen Grenzübergang geben.

Während der Ostteil der Straße fast völlig durch Grenzanlagen geprägt ist – lediglich eine Tankstelle an der Ecke ist für die Zivilbevölkerung erreichbar –, bleibt es im Westen ruhig, fast beschaulich. Neukölln wird ein sehr unspektakulärer Westberliner Bezirk, Ar­bei­te­r*in­nen und Klein­bür­ge­r*in­nen prägen das Straßenbild, es gibt aus den Sechzigern und Siebzigern kaum etwas zu berichten, in der Allee werkeln alle vor sich hin; ab Ende der Achtziger wird einmal im Jahr das Straßenfest „Singende, klingende Sonnenallee“ gefeiert, ansonsten hält sich auch die „Musike“ in Grenzen.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Immerhin aber besingt Rio Reiser später, im Jahr 1990, die Straße. „Uh, du bist so Sonnenallee“ heißt es im Refrain, und weiter: „Deine Mama hat ’n Kaufhaus am Hermannplatz/Und macht da die ganz dicke Kasse/Und dein Alter hat ’ne Kneipe in der Urbanstraße/Doch gehört mehr zur breiten Masse.“

In den Neunzigerjahren erfährt die Straße wieder mehr Aufmerksamkeit. Nun werden in der Sonnenallee die „Anderen“ gefunden – Gastarbeiter*innen, Geflüchtete und ihre Nachfahren, und die Shisha-Bars und Döner-Imbisse, die in den Läden entstehen, in denen vorher Handwerksläden waren, geraten in den Fokus.

Foto: Mathilde Tijen Hansen
Foto: Mathilde Tijen Hansen
Foto: Mathilde Tijen Hansen
Foto: Mathilde Tijen Hansen

Neuköllner Arbeitsamtes als „größtes Europas“.

Dass nach dem nationalen Taumel der Wiedervereinigung und infolge der völligen Selbstüberschätzung der gerade wieder zur Hauptstadt erhobenen „Metropole Berlin“ als einer Art „zweitem New York“ Dutzende Shoppingmalls entstehen, die den angestammten Handwerksbetrieben die Kundschaft rauben, wird nicht gesehen.

Nein, plötzlich heißt es, die Fremden, die Undeutschen nehmen „uns“ was weg – die Arbeitsplätze, die Parkplätze, die Würstchenbuden. Passend dazu beginnt die merkwürdige und mit Tatsachen nicht beeinflussbare Verklärung des oben erwähnten Neuköllner Arbeitsamtes als dem „größten Europas“.

Wieder werden Arme und So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ge­r*in­nen für jene, die in der Ordnungspolitik ihr Heil suchen, zur Projektionsfläche. Und mit ihnen die Sonnenallee, in der man sie sehr gut situieren kann. Das Straßenfest wird nach Jahrzehnten verboten, der damalige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky beschwert sich öffentlichkeitswirksam in Talkshows über die Be­woh­ne­r*in­nen seines Bezirks – die Sonnenallee trägt nun ein Stigma.

Nicht unbedingt für ihre Bewohner*innen, wie Mathilde Tijen Hansen in ihren Fotografien zeigt, sondern für die, die hier nicht wohnen müssen. Jens Spahn kommt nach den Silvesterkrawallen 2022 – die in ganz Berlin stattfanden – natürlich die Sonnenallee besuchen.

Er fährt aber nicht an den beschaulichen Venusplatz oder in die High-Deck-Siedlung, wo wirklich Fahrzeuge brannten, sondern bleibt in der Nähe des Hermannplatzes, um dort skeptisch in arabische Geschäfte zu schauen. So sollte Deutschland besser nicht aussehen, scheint er zu glauben. Und wenn sich heute Spahns Kanzler Merz am „Stadtbild“ stört, dann dürfte eine Straße wie die Sonnenallee mitgemeint sein.

Auch viele autoritäre linke Gruppierungen haben sich ihr eigenes Bild von der Sonnenallee gebastelt – es gibt geradezu einen Demotourismus in dieser Straße, in der man dann wackere Pro­le­ta­rie­r*in­nen aus der wo auch immer zu findenden Schwerindustrie, Fans der Hamas oder aber Be­für­wor­te­r*in­nen einer ultraliberalen Drogenpolitik finden möchte. Selbstverständlich wohnen auch solche Leute an der Sonnenallee.

Foto: Mathilde Tijen Hansen
Foto: Mathilde Tijen Hansen

Doch bei den Demos zeigt sich immer wieder, dass der Jubel, der von den Arbeiter*innen, Mi­gran­t*in­nen oder Junkies erwartet wird, eher ausbleibt – es wird nicht aus den Fenstern gewunken, es wird nicht vor den arabischen Supermärkten getanzt. Selbst bei den Demos nach dem 7. Oktober 2023 blieb der ganz große Zuspruch aus der Nachbarschaft, den sich die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen vermutlich erhofft hatten, aus. Dennoch blieb das mediale Bild, dass die ganze Sonnenallee mitdemonstriert habe.

Arbeitsamt und Autobahnbrücke, Estrel und Extremismus

Vielleicht sollte die autoritäre Linke mit den Leuten vor Ort reden und weniger positiven Rassismus mitbringen. Vielleicht will „der Muslim“ gar nicht, was eine Linke „ihm“ zuschreibt? Und vielleicht ist nicht jeder dunkelhäutige Mensch dem Islam zugeneigt?

Und die Rechte sollte mal schauen, wie konservativ oder marktradikal viele Händ­le­r*in­nen und Im­biss­be­trei­be­r*in­nen eigentlich sind – was den Autogeschmack angeht, unterscheiden sich viele Son­nen­al­lee­be­woh­ne­r*in­nen jedenfalls nicht von den An­hän­ge­r*in­nen der FDP.

Und sicher ist die Sonnenallee auch Arbeitsamt, Autobahnbrücke, Estrel-Hotel, ist Drogenelend und Extremismus, sie ist allerdings genauso Kleingartenidylle und Latte-Macchiato-Spießigkeit, es gibt Queers und Gentrifizierer*innen, Homophobe und Nazis, verspulte Ra­ver*­in­nen und Menschen, die zumindest in Nacht ruhig schlafen wollen.

Dass die Straße so sehr Projektionsfläche geworden ist, ist ihr großes Manko – doch wer die Sonnenallee vorurteilsfrei aufsucht, wird nicht das Arbeiterparadies, das Islamistengebiet oder die Brutstätte gewalttätiger Jugendlicher antreffen, als das die Sonnenallee immer wieder verschrien oder verklärt wird, sondern eine ziemlich lange Straße in einer deutschen Großstadt mit allen Problemen und allen Vorzügen, die eine solche zurzeit hat. Ein bisschen mehr Singendes und Klingendes stünde all diesen Straßen tatsächlich gut zu Gesicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare