Angelica Sanchez beim Jazzfest Berlin: Mit Partituren reisen
Zwischen Harmonie und Entfremdung: Die Pianistin Angelica Sanchez im Porträt. Beim Jazzfest Berlin wird sie in zwei Formationen zu hören sein.
Ein milder Herbsttag, Ende Oktober in Annandale-on-Hudson, Upstate New York. Vom Fenster fällt seitlich Licht im Büro von Angelica Sanchez, die am Bard College als Pianistin und Komponistin unterrichtet. In wenigen Tagen wird sie beim Jazzfest Berlin in zwei Formationen auftreten: In der Deutschland-Premiere ihres Trio-Kollektivs mit dem spanischen Schlagzeuger Ramón López und dem britischen Bassisten Barry Guy sowie beim London Jazz Composers Orchestra, gemeinsam mit der Pianistin Marilyn Crispell.
Nach ihrem bisher einzigen Auftritt in Europa beim Festival Jazzdor in Strasbourg im vergangenen Jahr, kommt Sanchez erstmals nach Deutschland. Das Konzert wurde anschließend als Live-Album veröffentlicht, mit weiträumig verflochtenen Improvisationen und den minimalistisch-meditativen, repetitiven Strukturen von Sanchez. Wie in ihrer Komposition „Calyces in Held“, benannt nach der von dem Neurologen Hans Held 1893 entdeckten Synapse im Gehirn, die sich wie ein Blütenkelch öffnet und steuert, wie Geräusche und Musik verarbeitet werden.
Sanchez interessiert sich für Neurobiologie und wie die Verästelungen der Nervenbahnen in Klangsysteme übersetzt werden können. Ausgehend von den anatomischen Forschungsillustrationen des Gehirns des spanischen Arztes Santiago Ramón y Cajal aus dem 19. Jahrhundert hat sie grafische Partituren gemalt, die als Quartettaufnahmen im kommenden Jahr veröffentlicht werden. „Für mich sind diese Partituren Orte, an die ich reise, während ich Musik spiele. Einige davon enthalten westliche Notation. Einige sind nur visuell. Es gibt keine Regeln.“
Sanchez ist auch eine ausgezeichnete Solistin, hörbar auf ihrem Soloalbum „A Little House“, wo sie ihr flächiges Innenraumspiel der Saiten mit perkussiven Tastenanschlägen variiert, aber auch über Country & Western Balladen wie Hank Thompsons „I´ll Sign My Heart Away“ improvisiert. Darüber hinaus komponiert sie für ihr vor zehn Jahren gegründetes Nonett. „Ich liebe Bigband-Sound. Dann sind alle immer überrascht, doch das Nonett hat eine lange Geschichte im Jazz, wie bei ‚Birth of the Cool‘ von Miles Davis.“
Angelica Sanchez live im Rahmen des Jazzfest Berlin 1. 11. mit dem London Jazz Composers Orchestra, Haus der Berliner Festspiele
2. 11. als Trio Sanchez/Guy/ López, A-Trane, Berlin
Ihre Aufnahme „Sparkle Beings“, eingespielt mit einem Trio, wurde 2022 von der New York Times in die Top Ten der besten Jazzalben gewählt. 2024 erschien das Duo-Album „In Another Land, Another Dream“, entstanden zusammen mit der argentinischen Saxofonistin Camila Nebbia.
Die fünfte Generation
Angelica Sanchez wird 1972 in Phoenix, Arizona geboren. Über die Plattensammlung ihres Vaters kommt sie zur Musik, hört Ahmad Jamal, Dave Brubeck und das Modern Jazz Quartett, aber auch Skrjabin und Bach. Später kommen Werke von Herbie Hancock, Thelonious Monk und der Pianistin Geri Allen dazu. „Es war sehr inspirierend, jemanden zu hören, der von Monk inspiriert und beeinflusst war, aber auch seine eigene Sprache hatte“, sagt Sanchez.
Als sie mit 22 Jahren nach New York zieht, arbeitet sie tagsüber beim Plattenladen Tower Records und wirkt abends mit bei Jam Sessions in der Knitting Factory und in kleinen Clubs. Über ihre Herkunft sagt sie: „Ich bin so etwas wie die fünfte Generation. In einer gemischten Gemeinde aus Schwarzen und Mexikaner-Amerikanern in South Phoenix bin ich damit aufgewachsen, dass mein Vater sich als Chicano identifizierte, was eines von vielen verschiedenen Wörtern ist, um einen US-Amerikaner mit mexikanischem Erbe zu beschreiben. Ich identifiziere mich als mexikanische Amerikanerin.“
Wie ist es, derzeit in den Vereinigten Staaten zu leben, wo die Einwanderungsbehörde ICE Jagd auf insbesondere lateinamerikanische Migranten macht, die auf der Straße, am Arbeitsplatz und sogar im Klassenzimmer ihrer Schule festgenommen und in Abschiebungslager gebracht werden? „Es ist jetzt noch gefährlicher geworden, Schwarz oder Braun zu sein“, erklärt Sanchez. Es sei schon immer gefährlich gewesen, doch jetzt gäbe es in den USA neue Hassbotschaften, die sich insbesondere gegen Braune Menschen richten. Doch sie würde nicht verzweifeln. „Ich bleibe positiv. So gehe ich damit um und meine Musik leistet einen Beitrag zur Verständigung. Musik ist für mich immer etwas, das Kraft gibt, sie stiftet pure Freude. Gerade jetzt schätze ich diese Energie noch mehr, weil die Welt mehr positive, nährende Energie braucht.“ Das habe ihr bewusst gemacht, wie heilsam Musik sein kann. „Ich schätze mich sehr glücklich, Musik machen zu dürfen“, erklärt sie. „Das ist in vielerlei Hinsicht ein Geschenk.“
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