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Der Schaum der Tage

Was bleibt von unserer Zivilisation? Ian McEwans Roman „Was wir wissen können“

Nach der Klima­kastrophe bleibt von Großbritannien nur ein Archipel: Frühlingssturm in Tynemouth, Nordostküste von England, April 2023 Foto: Owen Humphreys/picture alliance

Von Dirk Knipphals

Eine Grundkonstellation des Erzählens. Ein Erzähler macht sich an das Vorhaben, aus einem Abstand heraus Menschen, Begebenheiten zu verlebendigen und, wie es im neunten Kapitel dieses Romans heißt, eine „Zeit zu schildern, als würde ich in ihr leben“.

Der Abstand, den der britische Schriftsteller Ian McEwan zwischen seinen Ich-Erzähler und dessen Gegenstand legt, ist allerdings extrem groß. Er umfasst nicht nur ein Jahrhundert – McEwan lässt seinen Erzähler um das Jahr 2120 herum auf unsere Gegenwart zurückblicken –, sondern überbrückt auch die eingetretene Katas­trophe. In der Zwischenzeit hat es große Kriege gegeben, Atombomben sind gefallen, aufgrund der Erderwärmung ist der Wasserspiegel gestiegen, Großbritannien ist nur noch ein Archipel einzelner Inseln, die Weltbevölkerung hat sich halbiert.

Von da aus läge die Möglichkeit bereit, diesen Roman als große Anklageschrift anzulegen, und es gibt in ihm auch diese Spur, sich über eine erzählte Vergangenheit, also unsere Gegenwart, zu empören, „in der viele Probleme der Menschheit noch hätten gelöst werden können“. Ian McEwan treibt das Voranschreiten der Klimakatastrophe durchaus um. Doch literarisch legt er über diese Spur in diesem Roman eine dicke zweite Schicht. Er lässt seinen zukünftigen Ich-Erzähler nämlich vielmehr fasziniert sein von unserer Gegenwart.

„Was für brillante Erfindungen, welch bornierte Gier“, heißt es an einer Stelle. Die Menschen entzifferten „das menschliche Genom, erfanden das Internet, begannen mit KI“ – aber sie sahen auch verblüfft zu, „während die Disruption an Tempo gewann, die Zahl der Waffen sich vervielfältigte, und sie taten wenig dagegen“. Und kurz darauf: „Die Menschen waren großartig und tapfer, fantastische Gelehrte und Wissenschaftler, Musiker, Schauspieler und Sportler, und sie waren Idioten, die all das fortwarfen, obwohl ihre Hochkultur heftig klagte oder schrie vor Schmerz.“

Großartig und Idioten – das sind wir! Ian McEwan hat in diesem Roman Pessimismus und Optimismus eng miteinander verwoben. Die Menschheit wird in seiner Darstellung die anstehenden Probleme nicht lösen, aber sie wird, allerdings mit vielen Opfern, überleben, und es wird auch in der von ihm geschilderten Zukunft, wenn auch eingeschränkte Möglichkeiten geben, sich geisteswissenschaftlichen Interessen zu widmen: Seine Faszination für unsere Gegenwart speist sich für den Ich-Erzähler aus dem Versuch, einen ganz konkreten Abend des Jahres 2014 zu rekonstruieren. Schriftsteller, Verlagsleute, Angetraute und Freunde sind an diesem Abend in einem Landhaus zusammengekommen, um anlässlich eines Geburtstags einen formal anspruchsvollen Kranz aus 15 Sonetten anzuhören. Der Ich-Erzähler macht sich daran, das Puzzle an Beziehungen und Lügen, Empfindungen, Affären und Sprüchen, die so einen Abend begleiten, anhand von Mails und SMS-Botschaften, die die Zeit überdauert haben, zusammenzusetzen. Dabei kommt er den Menschen des Jahres 2014 in vielen Details nahe, irrt sich aber in vielen Dingen auch fundamental, wie ihm schließlich ein ausgegrabenes Manuskript, das den zweiten Teil des Romans ausmacht, offenbart.

Die Klimakatastrophe also und ein Sonettenkranz, hermeneutische Fragestellungen und dystopische Elemente, Liebeleien und Zukunftsszenarios, es ist schon sehr verblüffend, was Ian McEwan in diesem Buch zusammenbringt. Die erzähltechnischen Probleme, die sich daraus ergeben, löst er souverän bis brillant. So entwirft er ein glaubwürdiges Bild der möglichen Zukunft keineswegs, indem er es breit ausmalt, sondern indem er Details eher in die Nebensätze hineintröpfeln lässt. Die Menschheit wird in einer Art Mittelalter zurückgeworfen sein, die Globalisierung wird zurückgenommen worden sein, das ist in dieser Schilderung ganz klar, ohne dass Mc­Ewan sich da in detaillierten Schilderungen probiert.

Und gleichzeitig ist das ein Roman darüber, dass wir, eingedenk seines Titels formuliert, durchaus nicht alles darüber wissen können, was die Menschen umtreibt, dass es sich aber lohnt, es zu versuchen und sich dabei nicht mit allgemeinen Überblicken zu begnügen, sondern möglichst nah heran an konkrete Menschen zu begeben. Der Sonettenkranz sollte unter anderem eine Natur besingend festhalten, die zum gleichen Zeitpunkt real zerstört wird, als „Denkmal für eine gefährdete biologische Zivilisation“. Was dem Ich-Erzähler aber bleiben wird, ist die Prosa des gelebten menschlichen Durcheinanders von Wünschen, Projektionen, Glücksmomenten und Verirrungen.

Ian McEwan: „Was wir wissen können“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2025. 480 Seiten, 28 Euro

Und das ist für McEwan auch in Ordnung. Einmal lässt er seinen Erzähler denken: „Lyrik, hieß es, sei die edlere Disziplin. […] Der Roman dagegen war die Schaumschlägerei der letzten Jahrhunderte.“ Das ist eine der zutiefst ironischen Wendungen, mit denen McEwan den Roman zusammenhält, man hört ihn an dieser Stelle ein bisschen kichern. Was überdauern wird, ist der Schaum: Wer mit wem?, was wurde gegessen?, was wurde gedacht? Hier ist McEwan ein Erbe des bürgerlichen Realismus.

Ist „Was wir wissen können“ nun ein pessimistischer oder ein optimistischer Roman? Bei aller Empörung über unsere Gegenwart, die einen beim Lesen immer mal wieder überfallen kann, macht es sein Schillern aus, dass er diese Frage in der Schwebe zu halten vermag.

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