Stadtgespräch aus Härnösand: Wolkenbruch mit Folgen
Wie sintflutartiger Regen eine Region im Norden Schwedens geradewegs in den Abgrund und urplötzlich auch in die überregionalen Nachrichten reißt.

D er Regen war als „wolkenbruchartig“ angekündigt, mit gelber Warnung vom schwedischen Wetterdienst. Anfangs war alles wie erwartet: nachts prasselnde Wassermengen, vormittags wieder Ruhe. Nachbar Olsson nahm die Schaufel, um unseren Weg wieder einzusammeln.
Eine Schubkarre voller Schotter, bei jedem Starkregen runtergespült bis zur Straße, damit füllte er die Löcher so gut es geht wieder auf. Ich hatte schon geholfen, jetzt saß ich wieder am Schreibtisch. Das Radio lief.
Die Lokalnachrichten: Wer nicht unbedingt irgendwo hin müsse, solle das Autofahren vorerst lassen. Die überregionalen Nachrichten: Der Regen habe in der Region Västernorrland zahlreiche Straßen und Bahngleise unterspült. Bei Härnösand sei am Morgen ein Auto in einen Spalt in der Straße gestürzt.
Ein Freund aus Stockholm schrieb besorgt: Alles klar bei dir? Langsam sickerte es in mein Bewusstsein. Ungeahnte Abgründe hatten sich aufgetan. Unser Schotterproblem war in Wirklichkeit harmlos.
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Glück gehabt
Ich ging zu Herrn Olsson. „Hast du das gehört?“, fragte ich. „Was?“, meint er. Ich zählte auf: Zwei Güterzüge entgleist, einer beladen mit gefährlicher Munition. Mehrere Dörfer vom Straßennetz abgeschnitten, eins davon direkt bei uns. Die Hauptstraße nach Sollefteå weggesackt.
Er konnte sich nicht daran erinnern, so etwas schon mal erlebt zu haben. Wir hätten Glück, meinte er, unsere Häuser stünden sicher auf ihren Felsen. Mir erschien plötzlich nichts mehr sicher. 100 Millimeter Regen innerhalb weniger Stunden, Rinnsale wurden Flüsse, Entwässerungsrohre verstopft, Straßen überflutet, um dann zu verschwinden.
Mit den Tagen bekam das Ausmaß Zahlen. 3.000 Kilometer Straßennetz waren betroffen, 42 Straßen und Wege teilweise ganz weggespült. Ein Mann starb, er hatte in dem Auto gesessen, das in den Abgrund gefahren war.
Plötzlich war die nördliche Hälfte Schwedens vom Bahnverkehr abgeschnitten, mit internationalen Folgen. Eine Schlagzeile: Norwegische Lachsindustrie macht Millionenverluste. Weil die Fische nicht schnell genug nach Europa kommen. Immerhin kam schnell genug Essen auf die andere Seite des lokalen Höllenschlunds: Die Frau vom Dorfladen belieferte die von allen Straßen abgeschnittenen Menschen mithilfe von Körben und einem Seil.
Von Satelliten überwacht
Die Bereitschaftsbehörde teilt mit, dank der EU sei die Region nun satellitenüberwacht, was künftig schnellere Reaktionen erleichtern solle. Die Infrastrukturbehörde verteidigt sich gegen Kritik, sie sei zu langsam gewesen. Und die Waldbehörde stellt fest, dass der hier übliche Kahlschlag, der von alten Wäldern nur riesige Brachflächen übrig lässt, zum schweren Ausgang beigetragen haben könnte. Im Wald versickert Regen besser, erfahren die Schweden jetzt.
Härnösand ist auch die Heimat von Amanda Lind, der Co-Vorsitzende der schwedischen Grünen. Sie kam, sah und forderte eine „nationale Kraftanstrengung“ für Klimaanpassungen.Unter Nachbarn, in den Zeitungen und in der Politik: Es gibt auch in Schweden die, für die feststeht, dass dies ein Klimathema ist. Und solche, die es runterspielen: Schlecht unterhaltene Straßen, typisch für vernachlässigte ländliche Regionen – macht jetzt daraus kein Klimathema.
Herr Olsson vermeidet es – bis auf seltene Witze über die Schwedendemokraten – über Politik zu reden. Er müsse unseren Weg öfter flicken als früher, stellt er nur fest. „Jetzt kriegen die Menschen die Rechnung“, sagt er, nicht unamüsiert.
Die Hauptstraße nach Sollefteå ist wieder freigegeben – der reparierte Abgrund noch eine Schotterpiste, neuer Asphalt kommt später. Dem Regionalflughafen fehlt immer noch seine Zufahrt, ein Kartoffelbauer beklagt seine verlorene Ernte. Nach zehn Tagen Stille ist das Geräusch vorbeifahrender Güterzüge wieder da. Noch in begrenztem Umfang, heißt es. Ob der Lachs wieder rollt, ist von hier aus nicht zu erkennen.
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