Kulturort „R100“ in Friedrichshain: Raum mit Haltung
Auf einer Brache in Berlin-Friedrichshain ist es einem Flinta*-Kollektiv gelungen, einen unkommerziellen Kulturort zu schaffen. Doch auch der ist wieder bedroht.
Darunter sind auch Juli Wycisk und Suse Wilk – zwei der fünf Gründer*innen des Projektraums R100. „Als wir hier das erste Mal waren, war alles voller Schutt. Überall Unkraut, kaputte Fenster, kein Wasser, kein Strom“, erinnert sich Wilk. „Man konnte damals eigentlich nicht erkennen, dass hier mal ein kreativer Raum sein könnte“, sagt Wycisk. Damals, das war 2022.
Die Geschichte des R100 beginnt mit dem Ende der Zukunft am Ostkreuz, einem legendären Kulturzentrum mit Kino, Biergarten, Theater, Konzerten und Brauerei, nur wenige hundert Meter entfernt, in der Laskerstraße 5. Der Zukunft wurde 2021 von dem Vermieter, der Groß Berliner Damm GmbH, wegen steigenden Verwertungsdrucks gekündigt. Investoren wie Trockland und Pandion wollen hier luxuriöse Büros bauen, Mikroappartements und Co-Working-Flächen. Im März 2022 musste die Zukunft schließen – trotz einer breiten Solidaritätskampagne, die sich für den Erhalt einsetzte.
Wycisk und Wilk waren jahrelang in der Zukunft aktiv. „Wir waren schockiert – aber auch begeistert von der Unterstützung, die wir bekommen haben“, erzählt Wycisk. Die Solidarität habe den Entschluss weiterzumachen wesentlich gestärkt.
Neues Gelände, altbekannter Pächter
Und tatsächlich fand das Kollektiv bald ein neues Gelände: eine Brache nahe der Spree, zwischen dem Technoclub Renate und den S-Bahn-Gleisen. Offiziell ist es eine „Vorhaltefläche“ für den 17. Bauabschnitt der Stadtautobahn A100. Der Eigentümer: die Deutsche Bahn, mit demselben Pächter wie zuvor, der Groß Berliner Damm GmbH. Auch dieses Mal gibt es keine langfristige planerische Sicherheit, sondern nur einen zeitlich befristeten Zwischennutzungsmietvertrag. Eine neue „Zukunft“, aber wieder ohne klare Perspektive.
„Wir wussten überhaupt nicht, ob es sich lohnt“, sagt Wycisk. Trotzdem entschied sich das alte Kollektiv, das Gelände begehbar zu machen und daraus einen neuen unkommerziellen Kulturort im DIY-Charme zu schaffen, mit Kino, Kneipe, Konzerten und einem Theater.
Es folgten anderthalb Jahre Baustelle, Schuttberge und unzählige Arbeitsstunden. „Wir haben alles selbst gemacht – wirklich alles“, erinnert sich Wycisk. In dieser Zeit entwickelten die fünf ihre Ideen für einen eigenen Projektraum. Wichtig war ihnen etwa, sich als reine Flinta*-Gruppe zu organisieren. „Wir haben das nicht nur als alte Arbeitskolleg*innen, sondern als Freund*innen aufgebaut. Das macht einen Unterschied – man weiß, dass man füreinander einsteht.“
Heute besteht das R100 aus rund 200 Quadratmetern Projektraum plus Garten: selbstorganisiert, hierarchiefrei, ehrenamtlich betrieben – und getragen von einer klaren Haltung. „Wir sehen das nicht nur als Kulturort, sondern auch als politisches Projekt“, erklärt Wycisk. Ihre Kernwerte: Antifaschismus, Queerfeminismus und Gemeinwohlorientierung.
Vielfältiges Programm
Das R100 wolle so zugänglich wie möglich sein, sagt Wycisk: „Viele wissen bei solchen Projekten gar nicht, wie sie Kontakt aufnehmen können – oder fühlen sich abgeschreckt, weil es zu cool oder zu szeneintern wirkt.“ Hier soll alles dagegen möglichst barrierearm ablaufen. Wer eine Idee habe, könne das R100 anschreiben oder vorbeikommen – und gemeinsam würde dann geschaut, wie sie umsetzbar ist.
Das Programm ist entsprechend vielfältig, es reicht von queerfeministischen Workshops über Soli-Partys bis hin zu Lesungen, Ausstellungen oder einem kolumbianischen Weihnachtsfest. Hinter der kleinen Bar im R100 überlegt Wilk: „Am besten wäre es, wenn wir als Orgagruppe einfach austauschbar wären und sich der Raum selbst verwaltet.“
Juli Wycisk, Mitgründerin R100
Einzelne Gruppen haben bereits heute Zugang zu einem Kalender, in den sie ihre Events nur eintragen und sich einen Schlüssel abholen müssen – alles auf Vertrauensprinzip. Die Freund*innengruppe übernimmt dann nur Verwaltung und Organisation des Ortes.
Ebenfalls besonders: Der Raum kann auch von Personen und Kollektiven genutzt werden, die wenig oder gar keine finanziellen Ressourcen besitzen. Je nachdem, wie viel Geld ein Projekt mitbringt, zahlt es mehr oder weniger Miete. Die Einnahmen werden dafür verwendet, die Raumkosten sowie Strom, Wasser und Reparaturen zu bezahlen. „Wir machen kein Geld damit, das ist komplett Non-Profit“, betont Wycisk.
Ein Ort, wie es ihn in Berlin immer seltener gibt
So hat das R100 einen Ort geschaffen, wie es ihn in Berlin immer seltener gibt: frei von Verwertungsdruck. Während drumherum Co-Working-Spaces und Luxuswohnungen entstehen, finden hier Veranstaltungen statt, die keinen finanziellen Profit bringen, dafür aber Menschen zusammenbringen und Netzwerke schaffen.
Doch über all dem schwebt die Gefahr eines Weiterbaus der A100. Der 16. Abschnitt, der von Neukölln bis zum Treptower Park führt, ist bereits fertiggestellt und soll Ende August eröffnet werden. Von dort aus soll der 17. Abschnitt über die Spree und durch Friedrichshain bis zur Storkower Straße in Lichtenberg führen. Auch das Gelände der Neuen Zukunft und damit des R100 wäre betroffen. Frühester Baubeginn wäre laut Planungen erst im Jahr 2035, Fertigstellung dann um 2045. Trotzdem verweigert der Bund langfristige Verträge für Kulturorte wie die Zukunft.
„Aktuell ist immer noch nicht klar, wie die Autobahn GmbH die Trasse führen will oder ob es doch eine Tunnelführung gibt“, sagt der Friedrichshainer Grünen-Abgeordnete Julian Schwarze zur taz. Er vermutet jedoch: „Die Neue Zukunft, das About Blank und andere Kulturstandorte haben nur dann eine Zukunft, wenn die Autobahn nicht kommt.“
Um die Autobahn zu verhindern, müsste sich das Land Berlin allerdings stärker positionieren und beispielsweise den Flächennutzungsplan ändern, was den Bau erheblich erschweren würde. Schwarze würde das Gebiet gerne für Wohnungen, Parks, Bildung oder Clubkultur reservieren. Derzeit versucht auch der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit dem Entwicklungskonzept „Rudolfband“ das Quartier zu sichern und weiterzuentwickeln. Gegen all das steht der Wille der CDU, die sich klar für einen Weiterbau der Autobahn ausspricht.
Trotz der Unsicherheit wollen sich die Gründer*innen des R100 nicht unterkriegen lassen. Zweieinhalb Jahre nach dem ersten vorsichtigen Betreten des zugewachsenen Geländes ist der Projektraum ein Ort geworden, an dem sich Menschen ausprobieren und Gemeinschaften entstehen können. „Man fängt an zu träumen, während man einen Eimer Pisse wegträgt oder mit dem Kärcher den Boden sauber macht“, sagt Juli Wycisk und lacht – weil man Stück für Stück etwas schaffe, das man teilen könne.
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