Krieg in Gaza: Israels Sicherheitskabinett plant Einnahme von Gaza-Stadt
Israels Militärchef Eyal Zamir hatte vor einer Besetzung des ganzen Gaza-Streifens gewarnt. Kritik kommt aus dem Ausland, aber auch aus Israel selbst.
Eine vollständige Eroberung des Küstenstreifens, wie sie Netanjahu am Vorabend in einem Interview mit dem US-Sender Fox News angekündigt hatte, wird nicht explizit genannt. Das könnte laut israelischen Medienberichten ein Kompromiss mit Armeechef Eyal Zamir sein, der zuvor vor einer Besatzung des Gazastreifens gewarnt hatte.
Die Minister einigten sich zudem auf Prinzipien, „um den Krieg im Gazastreifen zu beenden“. Das seien die militärische Kontrolle des Gebietes durch Israel und dessen Demilitarisierung, die komplette Entwaffnung der Hamas, die Rückkehr aller Geiseln sowie der Aufbau einer Zivilregierung ohne Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde oder der Hamas.
Weitere Vertreibungen aus Nord-Gaza
Die Entscheidung dürfte die Kämpfe in Gaza um Monate, wenn nicht Jahre verlängern und die humanitäre Katastrophe für die mehr als zwei Millionen ausgehungerten Bewohner weiter verschärfen. Zuvor hatte es gegen die Ausweitung der Kämpfe lautstarke Kritik aus dem Ausland, aber auch in Israel selbst gegeben.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Laut israelischen Medienberichten soll die Vertreibung der Bevölkerung von Gaza-Stadt in den Süden bis Anfang Oktober abgeschlossen sein. Erst dann starte die militärische Offensive. Derzeit leben rund eine Million Menschen im Norden von Gaza. Der Großteil wurde in den vergangenen 22 Monaten mehrfach vertrieben. Laut UNICEF gelten rund 320.000 Kinder in Gaza als akut mangelernährt.
Für die Versorgung soll laut US-Botschafter Mike Huckabee die Zahl der Zentren der von den USA und Israel gestützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) von derzeit 4 auf 16 steigen. Die GHF steht jedoch stark in der Kritik, nachdem seit Mai im Umfeld von deren Zentren mehr als 1.000 Menschen erschossen wurden, die meisten wohl von israelischen Soldaten.
Innerisraelische Kritik
Kritik an dem Plan gibt es auch innerhalb Israels. Armeechef Zamir, erst Anfang des Jahres von Netanjahu selbst berufen, soll im Zusammenhang mit einer Besatzung von einem „schwarzen Loch“ gesprochen haben. Er warnte, Israels Armee müsste im Falle einer Besetzung die Verantwortung für zwei Millionen Gaza-Bewohner übernehmen, würde seine Soldaten Guerillaangriffen aussetzen und könnte das Überleben der noch rund 20 lebenden Geiseln in Gefahr bringen.
Vertreter der Sicherheitsbehörden warnen zudem vor Erschöpfung bei vielen Reservisten, zumal die Armee noch immer in Syrien und dem Libanon im Einsatz ist. Zuletzt hatten mehrere Suizide unter Soldaten nach Einsätzen in Gaza für Aufsehen gesorgt.
Viele Israelis stellen sich die Frage nach dem Sinn weiterer Kämpfe: Die überwiegende Mehrheit ist seit Monaten für ein Ende des Krieges im Austausch für alle 50 Geiseln, von denen rund 20 noch leben könnten. Von der Hamas gehe aktuell keine strategische Bedrohung mehr aus, schrieben zudem rund 600 ehemalige hochrangige Sicherheitsbeamte jüngst in einem offenen Brief und forderten ein Ende des Krieges.
Widerspruch kommt auch vom Forum der Angehörigen der rund 20 noch lebenden Geiseln. „Das Gerede von der Besetzung Gazas bringt sie in unmittelbare Lebensgefahr“, hieß es in einer Erklärung. Oppositionsführer Jair Lapid nannte die Entscheidung am Morgen eine „Katastrophe“.
Welche Ziele verfolgt Netanjahu?
Weshalb aber hält Netanjahu an militärischem Druck fest? Bisher wurden die meisten Geiseln durch Verhandlungen befreit, die Hamas ist zwar geschwächt, aber trotz Israels militärischer Überlegenheit nicht besiegt. Ob der Regierungschef für sein politisches Überleben oder aus strategischen Erwägungen heraus handelt, ist schon lange umstritten. Die Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, von denen er politisch abhängig ist, sprechen sich hingegen offen für eine Besetzung Gazas aus.
„Hier kommt die rechtsextreme Siedleridologie ins Spiel“, sagt Nimrod Goren, Gründer der Denkfabrik Mitvim. „Das Land zu nehmen und die Menschen zu vertreiben.“ Doch die „Umsiedelung“, wie sie seit US-Präsident Donald Trumps Riviera-Vorschlag immer wieder von israelischen Ministern aufgegriffen wird, sei kaum umsetzbar. Dennoch: Erklärte Absicht sei laut einem Bericht des Senders KAN unter Berufung auf eine anonyme Quelle in den Sicherheitsbehörden auch, die Bevölkerung durch die Vertreibung in den Süden zum Verlassen Gazas zu bewegen.
Im Gegenzug will Smotrich eine Erhöhung der humanitären Hilfe mittragen, obwohl er lange offen für ein Aushungern von Gaza geworben hat: „Um internationalen Druck zu senken und Zeit für den Krieg zu kaufen, doch die Mengen dieser Hilfe reichen bei weitem nicht aus“, sagt Nimrod Goren.
Als „gewaltigen Fehler“ bezeichnet auch Dov Weisglass eine erneute Militärbesatzung des Gazastreifens. Der 78-Jährige gilt als treibende Kraft hinter dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen 2005. Eine erneute Militärbesatzung werfe Israel in die Zeit vor dem Oslo-Friedensprozess zurück. „Es wird Menschenleben kosten, die Geiseln gefährden, die Armee und den Haushalt massiv belasten und die ohnehin angeschlagenen internationalen Beziehungen verschlechtern.“
US-Präsident Trump ließ zuletzt durchblicken, die Eroberung von Gaza sei „im Prinzip Israels Sache“. In der EU aber werden angesichts der Bilder abgemagerter Kinder in Gaza die Rufe nach Sanktionen gegen Israel immer lauter. Zuletzt sprachen mehrere Vertreter von EU-Parlament und -Kommission mit Blick auf Israels Vorgehen in Gaza von „Genozid“. Frankreich und Großbritannien könnten im Herbst Palästina als Staat anerkennen. Bisher verließ man sich in Jerusalem oft darauf, dass seitens der Verbündeten Mahnungen ohne Konsequenzen kamen. Macht Israel mit seinen Besatzungsplänen ernst, könnte sich das womöglich ändern.
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