: Liberté,Egalité,Hitzevorsorgé
Eigentlich sollte es bis 2025 in ganz Deutschland kommunale Hitzeaktionspläne geben. Doch Vorsorge bleibt freiwillig und viele Kommunen haben kein Geld. Frankreich macht es besser und zeigt: Hitzeschutz heißt, aufeinander zu achten
Von Sophie Fichtner (Text) und Juliane Pieper (Illustration)
Bei dem Gedanken an Hitze, welches Bild ploppt da im Kopf auf? Ein Eis, ein Sprung ins Schwimmbecken, Sonnencreme auf sandiger Haut? Wahrscheinlich. Eher unwahrscheinlich: der Gedanke an Kopfschmerzen, Übelkeit, Dehydrierung. Dass ab einer Körpertemperatur von 40 Grad der Hitzetod droht. Die Gefahr, die von Hitze ausgeht, ist im kollektiven Bewusstsein in Deutschland kaum vorhanden.
Ältere Menschen, Kinder, Schwangere und chronisch Kranke sind besonders gefährdet. In diesem Sommer sind laut Robert-Koch-Institut bereits 1.660 Menschen an den Folgen von Hitze gestorben. In den beiden Hitzesommern 2018 und 2019 waren es zusammengerechnet mehr als 15.000 Menschen. Hitze führt regelmäßig zu einer höheren Sterberate in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet den Klimawandel nicht umsonst als die „größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit“.
Vor fünf Jahren, im September 2020, hat die Gesundheitsministerkonferenz der Länder deshalb beschlossen, den Hitzeschutz in Deutschland auszubauen. Auf kommunaler Ebene sollte demnach „bis 2025 eine flächendeckende Erstellung von Hitzeaktionsplänen“ vorangetrieben werden.
Hitzeaktionspläne beinhalten langfristige Maßnahmen stadtplanerischer Art, wie die Entsiegelung zubetonierter Flächen oder die Beschattung von Plätzen; aber auch akute Maßnahmen, etwa dass ältere Menschen bei Hitze ans Trinken erinnert werden oder im Sommer kühle Räume zur Verfügung stehen. Hitzeschutz bedeutet auch, Klimaanlagen in Notaufnahmen zu installieren, Kindern beizubringen, wie sie sich bei Hitze verhalten, und Warnungen zu verbreiten, wenn es gefährlich heiß wird.
Wie steht es also um den Hitzeschutz in Deutschland?
Die taz hat eine Umfrage in den insgesamt 401 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland gemacht und gefragt, ob es einen Hitzeaktionsplan gibt. Von den 245 Landkreisen und kreisfreien Städten, die an der Umfrage teilgenommen haben, gaben 65 an, Hitzeaktionspläne erarbeitet zu haben. „Flächendeckend“ wurde der Hitzeschutz also nicht ausgerollt.
Moritz Ochsmann sitzt im Dachgeschoss des Deutschen Instituts für Urbanistik in Berlin-Mitte und sagt zu dem Umfrageergebnis: „Da die Kommunen anzuprangern, das bringt nichts.“ Ochsmann, 36, runde Brille, gescheiteltes Haar, forscht zur Anpassung von Städten an den Klimawandel und zur Hitzevorsorge. Er spricht ohne Denkpausen: „Hitzeaktionsplanung und -vorsorge sind in Deutschland keine Pflichtaufgaben. Also gibt es dafür keine finanziellen Mittel, die im Haushalt eingeplant sind.“ Genauso sei es mit Stellen, die müssten erst geschaffen werden. Schwierig, wenn man bedenkt, dass viele Kommunen leere Kassen haben.
So geht es auch Darmstadt. Die stark zubetonierte Stadt ist einer aktuellen Stadtklimaanalyse zufolge bereits jetzt extrem von der Klimaerhitzung betroffen. Michael Kolmer, Grünen-Stadtrat in Darmstadt, hat der taz-Umfrage eine Forderung hinzugefügt: „Klimaschutz und Klimaanpassung müssen endlich kommunale Pflichtaufgaben werden!“ Am Telefon sagt er: „Wie 90 Prozent aller Kommunen haben wir eine extrem schwierige Haushaltssituation.“ Solange Klimaanpassungsmaßnahmen und damit auch Hitzeschutz freiwillig seien, zählten sie in dieser Situation zu den potenziellen Sparposten. Der Bund müsse Hitzeschutz zur Pflichtaufgabe erklären und fördern, damit vor allem Städte im Sommer lebenswert bleiben.
In vielen Kommunen sorge die angespannte Finanzlage dafür, dass eine Person auf einer befristeten Stelle sitze und in einer eingespielten Verwaltung versuchen müsse, Stimmen für den Hitzeschutz zu gewinnen, sagt Stadtforscher Moritz Ochsmann. „Das heißt, man ist auf die intrinsische Motivation der Menschen angewiesen, im Gesundheitsamt, im Umweltamt, im Sozial- und Bauamt, auch im Grünflächenamt.“
Anders funktioniert es in Frankreich, dem europäischen Vorbild, wenn es um Hitzeschutz geht. Während Hitzeschutzbeauftragte hierzulande nach dem Bottom-up-Prinzip, also von unten nach oben, für Hitzevorsorge werben müssen, wurde den Kommunen im zentral regierten Nachbarland ein Hitzeaktionsplan übergestülpt. Dass dort so durchgegriffen wurde, liegt am Hitzesommer 2003.
Damals starben in Frankreich rund 15.000 Menschen an der Hitze. Frankreich war auf die Gesundheitskatastrophe nicht vorbereitet und der politische Druck war danach so hoch, dass schon ein Jahr später ein nationaler Hitzeplan eingeführt wurde – verpflichtend für alle Kommunen im Land. Seitdem gilt von Juni bis Mitte September ein mehrstufiges Warnsystem, Feuerwehren und Krankenhäuser sind in Hitzeperioden auf mehr Einsätze und Patient:innen vorbereitet.
In den letzten 20 Jahren habe sich der Hitzeschutz in das Leben der Französ:innen integriert, sagt Moritz Ochsmann. Zwei Stichworte seien in Frankreich immer wieder gefallen: Ignoranz und Isolation. Diese zwei Faktoren würden die Hitze so verheerend machen. „Damals sind die Franzosen in die Sommerferien gefahren, während viele alte Menschen allein zu Hause geblieben sind und in ihren überhitzten Wohnungen starben“, sagt Ochsmann. Die Hitzetoten wurden in Frankreich als eine soziale Katastrophe angesehen, als ein gemeinschaftliches Versagen.
Aus diesem Grund hatte der soziale Aspekt von Hitzeschutz in Frankreich lange Priorität. In der Gesellschaft wurde ein Netz gesponnen, um während einer Hitzewelle aufeinander zu achten. Moritz Ochsmann kennt zahlreiche Beispiele: Bei Hitze fragten Postbotinnen oder Kassierer bei älteren Menschen nach, wie es ihnen geht. In Apotheken werde der Blutdruck gemessen, ein Glas Wasser und ein Platz zum Ausruhen angeboten. „Auch 8-jährige Schüler:innen werden als Multiplikatoren eingesetzt, weil man herausgefunden hat, dass Eltern ihren Kindern in diesem Alter noch zuhören“, sagt Ochsmann. Im Unterricht werde über Hitzeschutz gesprochen, zu Hause erzählten die Kinder das Gelernte weiter.
Im ingenieurversessenen Deutschland seien die Menschen an heißen Tagen weniger sensibel für ihr Umfeld. „Der Diskurs hat sich hier sehr lange auf blau-grüne Infrastruktur im öffentlichen Raum konzentriert“, sagt Ochsmann. Also auf eine Stadtplanung, die Wasser- und Grünflächen in die Städte integriert und sie so klimaresilienter macht. „Aber Studien zeigen, dass wir selbst bei einer großflächigen Entsiegelung und Begrünung der Städte die Temperaturen nicht so weit herunterkriegen, dass keine gesundheitlichen Probleme mehr auftreten.“ Ochsmann hebt seine Hände verteidigend in die Luft: „Mir wurde schon vorgeworfen, ich würde die stadtplanerischen Maßnahmen kleinreden, aber so meine ich das nicht.“ Man bräuchte beides: mehr Bäume und ein soziales Miteinander bei Hitze.
Ein weiteres Problem: Hitzeschutz ist in Deutschland nur Thema, wenn es heiß ist. Moritz Ochsmann beschäftigte sich das ganze vergangene Jahr damit. Aber erst als es heiß wurde, klingelte sein Telefon. „Dann kamen die Presseanfragen rein, alle wollten was zu Hitze machen“, er hörte nur noch „Hitze, Hitze, Hitze“. Zwei Wochen später herrschte wieder Ruhe, es war abgekühlt. „Wir warten mit der Ausstrahlung des Beitrags, bis es wieder heiß ist“, hörte Ochsmann. So funktioniert die Logik der Medien. Auch dieser Text erscheint im August. „Das ist wie mit der Hochwasserdemenz“, sagt Ochsmann. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal hätten alle von Hochwasserschutz gesprochen. Einen Sommer später war es trocken – kaum einer hätte mehr darüber nachgedacht.
Auf der Suche nach Aktionen für Hitzeschutz bekommt man ein ähnliches Gefühl. Am 4. Juni, dem bundesweiten Hitzeaktionstag, da habe es eine Informationsveranstaltung gegeben, heißt es aus mehreren Landkreisen, aber jetzt seien Sommerferien.
Eine soziale Maßnahme, die Prävention ins Wohnzimmer bringt, ist das Hitzetelefon. In Marzahn-Hellersdorf im Berliner Osten steht eines dieser Telefone auf einem Schreibtisch in einem weißen Frachtcontainer. Im Inneren befindet sich das Büro von Markus Puppe, er ist Rettungsassistent und Einsatzleiter des Hitzeschutztelefons vom Deutschen Roten Kreuz Berlin-Nordost. Von Juni bis September können Bürger:innen hier rund um die Uhr anrufen, wenn sie Probleme mit der Hitze haben oder nach Verhaltenstipps suchen.
Markus Puppe, 39, ein kräftiger Mann mit Halbglatze und sanfter Stimme, wählt die Nummer von Herrn L. „Die Schutzfolie gibt es noch genau in einem Baumarkt in Berlin“, sagt Puppe in den Hörer. Auf dem Computerbildschirm sind mehrere Tabs von unterschiedlichen Thermofolienherstellern geöffnet. „Wie viele Quadratmeter brauchen wir denn?“, fragt er in den Hörer. „Na, dann müssen wir einen Termin zum Ausmessen machen. Wie sieht es nächsten Montag bei Ihnen aus?“ Die durchsichtige Folie werde an Fensterscheiben geklebt und könne die Raumtemperatur um 9 bis 12 Grad senken, erklärt Markus Puppe, als er das Telefonat beendet hat. Um das Ehepaar L. hat er sich schon im letzten Sommer gekümmert.
Die beiden seien über 90. Frau L. habe mehrere Schlaganfälle erlebt und sei kaum mehr mobil. Sie wohnen in einem selbstgebauten Haus, „sehr schön, aber kaum isoliert“, erzählt Markus Puppe. Letzten Sommer sei das Schlafzimmer auf 40 Grad hochgeheizt. „Die sind in dem Ding gefangen“, sagt Puppe.
Da ist sie, die Isolation, von der in Frankreich nach der Hitzekatastrophe so viel gesprochen wurde. Zwei alte Menschen, die abgeschieden in ihrem Haus leben. Letztes Jahr hätten sie dem Paar eine Klimaanlage vom Roten Kreuz ausgeliehen. Längerfristig sollen die Folien die Hitze aus dem Schlafzimmer halten.
Markus Puppe übergibt das Hitzetelefon an seinen Kollegen. Er fährt gleich mit dem Auto raus, um nach den obdachlosen Menschen im Bezirk zu schauen, ihnen Wasser und Käppis zu geben und etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Es klingelt, Frau S. ruft an. Die 59-Jährige macht sich Sorgen, wegen der Hitzewelle, von der im Fernsehen so viel gesprochen werde. Seit Tagen sei ihr etwas schummerig.
„Geht es Ihnen akut schlecht?“, fragt der Kollege. In Notfällen rufen Sie aus dem Container direkt einen Krankenwagen. „Haben Sie Herzrasen?“ Am Ende der Leitung ist ein Nein zu hören. „Sehr gut. Können Sie querlüften? Haben Sie heute schon genug getrunken?“ Der Sanitäter vereinbart einen Beratungsbesuch mit der Frau am nächsten Vormittag. „Oft ist den Menschen schon geholfen, wenn man ihnen zuhört“, sagt er.
An der Wand hängen ausgedruckte Grafiken, auf denen die Anrufzahlen mit der jeweiligen Tagestemperatur angegeben sind. Im Schnitt rufen zehn bis zwanzig Menschen am Tag an. Bei über 30 Grad sind es 50 bis 60 Anrufe. Puppes Kollege ist froh, dass es diesen Sommer noch nicht so viele heiße Tage gab. „Das sind alles Lernstunden für uns, wenn es nächstes Jahr kritischer wird“, sagt er.
Wenn das Rote Kreuz für eine Hitzeberatung vorbeikommt, können die Sanitäter den Blutdruck und Blutzucker messen. Bei älteren Menschen lässt sich auch leicht testen, ob die Person dehydriert ist, erklärt Markus Puppe. Er zieht die Haut auf seiner Handfläche hoch und lässt sie wieder los. Wenn die zusammengequetschte Haut stehen bleibt und sich erst langsam wieder entfaltet, hat die Person zu wenig Wasser getrunken.
Außerdem geben sie einfache Tipps für heiße Tage. Nummer 1: Anständig lüften, also morgens und am späten Abend und wenn möglich querlüften.
Da fällt dem Sanitäter Herr W. ein. Ein älterer Herr, der allein lebt und im letzten Sommer häufig Probleme mit dem Kreislauf hatte. Seine Fenster würden alle Richtung Süden zeigen, also habe er keine Möglichkeit querzulüften. Sie kamen auf die Idee, bei der Nachbarin gegenüber zu fragen, ob sie über den Hausflur lüften können. Wenn beide Haustüren offen sind, kann ein Luftzug entstehen. Seitdem schauen Herr W. und die ältere Dame gegenüber nacheinander.
Der zweite Tipp: Rollos vor den Fenstern anbringen, aber von außen.
Drittens: Die Luftfeuchtigkeit im Raum ein bisschen erhöhen. Durch einen Wäscheständer, indem man Zimmerpflanzen mit Wasser besprüht, oder mit einem Luftbefeuchter. So einer steht auf Markus Puppes Schreibtisch in Form eines Eisbergs und stößt hin und wieder kleine weiße Wölkchen aus.
Sanitäter, Deutsches Rotes Kreuz
Viertens: Minztee trinken, der senke die Körpertemperatur. Markus Puppe geht zum Auto und kontrolliert, ob im Kofferraum noch genügend Wasserflaschen sind.
Dann fährt er zu einem Wohnblock, wo neuerdings ein alter Mann in den Büschen leben soll. Manchmal rufen besorgte Anwohner:innen beim Hitzetelefon an und geben Bescheid, wenn in ihrer Nachbarschaft eine Person auf der Straße lebt und es sehr heiß ist. Dann schaut Puppe nach dem Gesundheitszustand der Menschen.
Der Mann sitzt zusammengesunken auf einer Parkbank und starrt in die Luft. Puppe kniet sich neben ihn, gibt ihm ein Wasser und eine Kappe, mit der er sich vor der Sonne schützen kann. Als Nächstes fährt Puppe zu einem Brunnen, wo er immer wieder einen Mann ohne Obdach besucht. Er läuft den Platz im Uhrzeigersinn ab, aber findet ihn nicht. „Die Bauarbeiter sind da“, sagt er, „da hat er sich bestimmt verzogen.“
Wissenschaftler Moritz Ochsmann hat die Hoffnung, „dass wir keine Katastrophe wie in Frankreich erleben müssen, bevor wir ins Handeln kommen“. Solidarität an heißen Tagen beginnt mit einer einfachen Frage in der Nachbarschaft: Wie geht es dir heute? Hast du genug getrunken? Mit offenen Augen für Menschen, die von der Hitze am stärksten betroffen sind.
Markus Puppe will heute Abend noch mal zum Brunnen gehen und schauen, ob der Mann doch zurückgekommen ist. Dann hat er eine Flasche Wasser dabei.
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