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Detlef Diederichsen Böse MusikDie schlimmste Ära der Popkultur?

Altstars gehen regelmäßig auf Tour, so sie noch jemand sehen will und die Gesundheit noch mitspielt. Das hat nichts mit Retromania zu tun.

Madonna, im Geiste jung, im Stile 80er Foto: Silvia Izquierdo/AP Photo

W ie alles andere, so kehrt auch die Aufregung über die vermeintliche „Retromania“ in der Popwelt in regelmäßigen Abständen zurück – wird quasi selbst Opfer von Retromania –, seit Simon Reynolds den Begriff 2011 in die Vorstellungswelt der Pop-Denkenden eingeführt hat. So auch jetzt wieder.

Allerdings hat sich der Begriff mittlerweile anscheinend weiterentwickelt. In der Welt klagte kürzlich Jens Ulrich Eckhard: „Madonna bringt ein Remix-Album ihrer Hits aus den 90ern raus. Iggy Pop kehrt mit 78 Jahren auf die Bühne zurück. Bruce Springsteen veröffentlicht mit ‚Tracks II‘ ein sieben Alben umfassendes Monumental-Werk. Oasis auf Reunion Tour. Und auch Coldplay klimpert sich wieder durch die Weltgeschichte.“

Dass Altstars regelmäßig auf Tour gehen, so sie noch jemand sehen will und die Gesundheit noch mitspielt, hat nichts mit Retromania im Reynolds’schen Sinne zu tun und war darüber hinaus schon immer so. Auch dass Madonna ihr bislang unveröffentlichtes 1998er-Remix-Album „Veronica Electronica“ in überarbeiteter Form jetzt herausbringt, wird nicht von dem Begriff abgedeckt, zumal die Musik ja eher eine Weiterentwicklung beziehungsweise Distanzierung vom Retromania-fähigen Originalsound der Hits ist.

Reynolds ging es eher darum, dass die bequeme Beschwörung der gesichert coolen Popvergangenheit in ihrer Look-&-Feel-Ganzheit ein Verstecken in einem gegen kritische Anwandlungen unangreifbaren Territorium ist und dass die Verlockung zu Re-enactments hoffnungsvolle junge Talente aus dem Pool potenzieller Erneuerer heraussaugt und uns womöglich auf ewig in eine Wiederholungsschleifenhölle wirft.

Blasse glorreiche Vergangenheit

Aber man kann Reynolds beruhigen: Die Zahl der Velvet-Underground-, „Keef“-Richards- oder Syd-Barrett-vergötternden Nachwuchsbands ist stark zurückgegangen. Zu blass ist die glorreiche Vergangenheit mittlerweile, als dass sie die Teenager von heute zu mehr als einem Hinzufügen zu einer Playlist animieren könnte.

Da die Musik der vergangenen hundert Jahre unterschiedslos neben den erst letzte Woche produzierten Tracks für junge Musikinteressierte verfügbar ist, wird der Algorithmus schnell verstehen, dass er Musik aus allen Epochen und der ganzen Welt vorschlagen darf, sodass am Ende auf der Playlist der jungen Neugierigen Die Heiterkeit neben Masayoshi Takanaka und Normal Nada The Krakmaxter neben Marilia Medalha landet. Die jeweiligen kulturellen und historischen Zusammenhänge, das „große Bild“, kann da schon mal außen vor bleiben – je nach Tiefe des Interesses –, was man beklagen kann.

Der Algorithmus wird schnell verstehen, dass er Musik aus allen Epochen und der ganzen Welt vorschlagen darf

Auf der anderen Seite spielt der inkriminierte Retro-Spirit, der nicht nur eine Musik, sondern ein komplettes Lebensgefühl aus dem Orkus zurückzuholen trachtet, auf dass man es sich überstülpt und darunter vor der Welt versteckt, hier nun so gar keine Rolle mehr.

Für seinen Text „Is This The Worst-Ever Era of American Pop Culture?“ besuchte der The-Atlantic-Autor Spencer Kornhaber unlängst die führenden Pop-Pessimist*innen der USA. Neben Klagen über den Zustand der Musikindustrie, das Verschwinden des Albums und anderen Dauerbrennern durchzieht vor allem ein Unwohlsein aufgrund der starken Präsenz älterer Musik die Analysen der Kritiker*innen: „In meiner Generation hörte niemand, den ich kannte, die Musik seiner Eltern“, sagt der 67-jährige Musiker und Autor Ted Gioia.

Ich weiß nicht, welche Musik Ted Gioias Eltern gehört haben. Aber ohne die Rückbesinnung und Neuentdeckung der Folk- und vor allem Blues-Musik der 1920er und 1930er Jahre hätten Bob Dylan, die Rolling Stones, Jimi Hendrix und eigentlich fast die gesamte Boomer-Generation ganz andere oder gar keine Musik gemacht. Wie schon William Faulkner sagte: „The past is never dead. It’s not even past.“

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