Anita Lasker-Wallfisch feiert Geburtstag: „Du wirst gerettet werden“
Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin und Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, feiert ihren 100. Geburtstag in London.
Sie kann kaum glauben, dass sich an dem höllischsten aller Orte jemand für ihre Musikalität interessiert. Die Haare abrasiert, die Nummer 69388 auf den linken Arm tätowiert, nackt steht Anita Lasker-Wallfisch da, als eine Mitgefangene auf sie zukommt. Ihr sei berichtet worden, dass sie Cello spielt.
„Das allerletzte, das ich je erwartet hatte, als ich nach Auschwitz kam, war eine Unterhaltung über mein Cellospiel!“, schreibt Lasker-Wallfisch mehr als 50 Jahre später in ihren Memoiren („Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz“).
Es ist die österreichische Violinistin Alma Rosé, die im KZ kurz nach ihrer Ankunft Ende 1943 auf sie zukommt, beide werden später gemeinsam im sogenannten Mädchenorchester von Auschwitz spielen. „Du wirst gerettet werden“, sagt Rosé zu ihr.
Sie behielt recht. Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt, und sie lebt noch immer. Am Donnerstag feiert sie ihren 100. Geburtstag in der Wigmore Hall in London – mit einem großen Festkonzert. Die Überlebenden, schreibt sie in ihrer Biografie, seien „eine Rasse für sich“, „außer einigen Einzelheiten bleibt alles unauslöschlich im Gedächtnis; es gebe „Menschen, die ‚wissen‘, und Menschen, die ‚nicht wissen‘.“
Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt
Lasker-Wallfisch hat eine Verantwortung als Überlebende gespürt, sie hat in den vergangenen Jahrzehnten in Schulen und vor Jugendlichen über ihre Erfahrungen und über den Holocaust gesprochen.
Anita Lasker-Wallfisch stammt aus einer jüdischen Familie in Breslau, heute Wrocław. Am 17. Juli 1925 kommt sie auf die Welt, schon als Kind lernt sie das Cellospiel. In Breslau wird es nach der Machtübernahme des NS-Regimes 1933 immer schwieriger, als jüdisches Kind unterrichtet zu werden, sie geht nach Berlin zum Musiklernen.
Nach den Novemberpogromen 1938 kehrt sie nach Breslau zurück. Sie und ihre Schwester Renate müssen Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Ihrer älteren Schwester Marianne Lasker gelingt bereits vor Kriegsbeginn die Flucht nach London. Auch Anita und Renate versuchen zu fliehen, die Gestapo verhaftet beide 1942 in Breslau. Sie kommen zunächst ins „Zuchthaus“, werden dann nach Auschwitz deportiert, als Anita gerade 18 Jahre alt ist.
Perversion Auschwitz
Zur Perversion Auschwitz gehören auch die Häftlingsorchester und das Mädchenorchester. Lasker-Wallfisch und ihre Mitmusikerinnen spielen am Lagertor Märsche für die Gefangenen, die in den umliegenden Fabriken arbeiteten, geben Sonntagskonzerte, müssen auftreten, um das SS-Personal zu unterhalten.
Die „Träumerei“ von Schumann habe sie für Josef Mengele spielen müssen, erinnert sich Lasker-Wallfisch, damit dieser sich von den „,Strapazen' der Selektionen“ habe „erholen“ können. Doch Lasker-Wallfisch wird gebraucht in Auschwitz, war nützlich in der Denke der NS-Ideologie, was ihr wohl das Leben rettete.
Als die sowjetischen Truppen näherrücken, werden beide Schwestern nach Bergen-Belsen verbracht, wo sie bis zur Befreiung im April 1945 bleiben. Zum Unterschied zwischen beiden KZs sagt sie in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Befreiung von Auschwitz im Jahr 2018: „In Auschwitz hat man Menschen auf die raffinierteste Art und Weise en gros ermordet. In Belsen ist man ganz einfach krepiert.“ Anita Lasker-Wallfisch ist eine der ersten, die der BBC Interviews nach der Befreiung von Belsen gibt. Die Auschwitz-Häftlingen fürchteten, die Welt werde nicht glauben, was sie dort erlebt hätten, sagt sie da.
Nach der Befreiung verbringt Anita Lasker-Wallfisch eine Weile in Brüssel, wo sie die Musik wieder lieben lernt. „Ich ging sehr viel in Konzerte, manchmal zweimal am Tag. (…) Ich war ausgehungert nach Musik“, schreibt sie in ihrer Biografie.
Anita und Renate Lasker-Wallfisch überleben – anders als ihre Eltern, die 1942 ins polnische Durchgangsghetto Izbica deportiert und wohl dort ermordet wurden. Die Schwestern gehen nach dem Krieg ins geliebte England. Anita Lasker-Wallfisch lebt fortan in London, sie studiert an der Londoner Guild Hall School of Music, wird Gründungsmitglied des renommierten English Chamber Orchestra. Sie heiratet den Pianisten Peter Wallfisch (1924-1993), aus der Ehe gehen ihre Kinder Raphael und Maya hervor. Lange schweigt Anita Lasker-Wallfisch über das Geschehene, auch gegenüber ihren Kindern. Erst Ende der 1980er Jahre übergibt sie ihre schriftlichen Erinnerungen an sie.
Warnung vor Judenhass
Anita Lasker-Wallfisch bleibt sehr lange gesund, vor einem halben Jahr hat sie laut ihrer Tochter Maya einen schweren Unfall gehabt und wird rund um die Uhr gepflegt. Gewarnt hat sie immer wieder vor dem wiedererstarkenden Hass auf Jüdinnen und Juden. Was sie in ihrer Bundestagsrede vor sieben Jahren sagte, ist zeitlos: „Was den wieder aufblühenden Antisemitismus betrifft – fragen Sie sich: Wer sind eigentlich diese Juden? Warum findet man sie überall? Vielleicht, weil sie vor zweitausend Jahren aus ihrer Heimat in alle Welt vertrieben wurden und immer wieder irgendeinen Platz gesucht haben, wo sie hofften in Frieden leben zu können, nicht ermordet zu werden.“
An ihrem letzten Tag als Teenagerin, im Juli 1945, schickt Anita Lasker-Wallfisch ihrer Schwester Marianne einen Brief. „Heute ist mein letzter Tag 19. Nun werde ich nie wieder eine 1 als erste Zahl haben (falls ich nicht 100 Jahre alt werde)“, schreibt sie darin.
Wie wunderbar und erfreulich, dass es nicht die letzte „1“ geblieben ist. Congratulations and all the best, Mrs. Lasker-Wallfisch!
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