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Insel der Ausgegrenzten

Einst Quarantänestationen, heute grüne Rückzugsorte: Die venezianischen Inseln Lazzaretto nuovo und San Servolo erzählen von Seuchenangst, psychiatrischer Gewalt und einem langsamen medizinischen Umdenken

Wie mit dem Lineal gezogen: die Insel San Servolo, 380 Meter lang, etwa 155 Meter breit Foto: Julian Weyer/getty images

Aus Venedig Claus Leggewie

Man streift durch Alleen mit Maulbeerbäumen, entdeckt einen alten Brunnen mit dem venezianischen Löwenwappen, kann Kormorane beobachten und die langschnabeligen Stelzenläufer, die hier Cavalieri d’Italia genannt werden. Auf der nur neun Hektar großen Insel Lazzaretto nuovo wirkt Venedig, die wuselige und ganzjährig überfüllte Serenissima, ganz ländlich und provinziell.

Vor Jahrhunderten hatten sich hier Einsiedler und Mönche niedergelassen, bis der venezianische Senat die kleineren Inseln in der Lagune als Puffer gegen allfällige Bedrohungen der Stadt entdeckte. Ende des 16. Jahrhunderts richtete er auf Lazzaretto nuovo eine Quarantänestation ein, für Reisende aus dem Osmanischen Reich und Zypern, bei denen man ansteckende Krankheiten wie die Pest vermutete.

Unter österreichischer Herrschaft wurde Lazzaretto nuovo zum Militärstützpunkt ausgebaut und als solcher von der italienischen Marine noch bis 1975 genutzt. Die Bauwerke zerfielen, doch neuerdings haben zivilgesellschaftliche Initiativen das langgezogene Haupthaus restauriert und naturkundliche Lehrpfade eingerichtet. Von einer alten Mauer überblickt man die bunten Sträucher der Salzmarschen, am Horizont zeichnet sich die ikonische Silhouette des historischen Zentrums gegen die untergehende Sonne ab.

Ebenso lohnend ist ein Ausflug auf die nur halb so große San Servolo, deren gemauerten Umrisse wie mit dem Lineal gezogen sind. Heute wird San Servolo von der Venice International University als Treffpunkt von Universitätsangehörigen aus aller Welt genutzt. Auch diese Insel durchlief die Karriere vom Kloster zum Militärhospital, um dann in der österreichisch-habsburgischen Ära unter Leitung eines „Alienistas“ (Psychiaters) „Geisteskrankheiten“ wie Hysterie, Melancholie und Demenz von Venedig fernzuhalten. Das sehr feine Museo di Manicomio di San Servolo erinnert an das Schicksal dieser „Irren“, die auf der kleinen Insel seit Ende des 19. Jahrhunderts eingesperrt wurden.

Die ausgestellten apparativen Überreste demonstrieren den Weg von den frühen Behandlungsmethoden – wie 12- bis 15-stündigen Bädern in über 30 Grad warmem Wasser, Insulinkuren, Zwangsjacken und Elektroschocks – zum „gemäßigten“ Vorgehen mit dosierter Elektrizität und Psychopharmaka.

Die Patientinnen und Patienten stammten in der Zeit der Habsburgerherrschaft aus ganz Venetien, aus Dalmatien und Tirol. Sie wurden stets auch als psychiatrische Forschungsobjekte betrachtet, bis hin zu anatomischen Übungen an ihren Leichen, in einer Kapelle befindet sich noch der Seziertisch. Ein langer Fries zeigt die Konterfeis der unglücklichen Patienten, deren Leidensminen im scharfen Gegensatz zur idyllischen Umgebung stehen.

In einem einladenden Garten setzen sich heute Arbeitsgruppen zusammen, werden Hochzeitspartys ausgerichtet. Auf dem Gelände findet sich auch das Restaurant Roba da matti, was wörtlich „Zeug für Wahnsinnige“ bedeutet und umgangssprachlich für „unglaublich!“ oder „Das ist ja Wahnsinn!“ verwendet wird.

Im Garten von San Servolo wurden auch Beschäftigungstherapien angeboten, genau wie in einer Schneiderei, einer Schmiede, einer Druckerei und einer Möbelwerkstatt, später gab es Musik- und Gruppentherapien. Die Methoden wurden humaner, doch es kam auch zu Missbrauch an den Schutzbefohlenen. Die Exponate der Ausstellung gleichen Folterinstrumenten, in der angeschlossenen Anstaltsapotheke sind Gefäße mit Pflanzen, Pillen und Pasten zu besichtigen, die Patienten beiderlei Geschlechts verordnet wurden.

Der radikale Umschwung erfolgte mit der Antipsychiatriebewegung um den damals in Triest praktizierenden Franco Basaglia, die im Mai 1978 in Italien das berühmte Gesetz 178 durchsetzte, das geschlossene Anstalten weitgehend auflöste. Hilfreich war außerdem die breite gesellschaftliche Empörung gegen die Zustände in geschlossenen Anstalten, ausgelöst durch den Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ aus dem Jahr 1975.

Basaglia und Kollegen wie Thomas Szasz, David Cooper und R. D. Laing forderten ein radikales Umdenken: Während die klassische Anstaltspsychiatrie, wie eben in San Servolo, das Wohlverhalten der Patienten mit exklusiver Verwahrung und hierarchischer Verwaltung erzwingen wollte, startete nun der Versuch, sie als Gleichberechtigte wahrzunehmen. Anstelle der in San Servolo dokumentierten brachialen Methoden werden nun Psychopharmaka genutzt, weiter werden auch schwächere Elektrotherapien verschrieben, gegen Depression, Schizophrenie, drogeninduzierte Psychosen, Zwangsstörungen und neuroleptische Vorfälle.

Das Museo di Manicomio präsentiert im kleinen Maßstab somit einen medizinisch-therapeutischen Fortschritt im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig spricht es die aktuelle Warnung aus, nicht allein auf Medikalisierung zu setzen, also nicht alle menschlichen Zustände als medizinische Probleme zu betrachten – oder, wie es in Diktaturen immer noch geschieht, unliebsame Oppositionelle gar in psychiatrische Anstalten zu verbannen.

Geöffnet ist das Museo di Manicomio nur freitags 14 bis 17.30 Uhr sowie am Wochenende von 9.45 bis 16.30 Uhr. Nach San Servolo fährt das Vaporetto der Linie 20. Lazzaretto nuovo ist mit der Linie 13 zu erreichen.

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