LGBTQI-Szene in China: Queer, laut, verboten
Der Techno-Club TAG in Chengdu muss schließen – er war ein Symbol für Freiheit in Chinas liberalster Stadt. Doch die queere Szene lebt weiter.

Es fühlt sich an wie in Berlin. Nur der Blick aus dem Fenster verrät, es ist 7.400 Kilometer weiter östlich, im 21. Stockwerk eines kargen Wohnblocks im Südwesten Chinas.
Der Klub heißt TAG (kurz für To Another Galaxy). Abgesehen von einem daumenbreiten Schild an einer Metalltafel gibt es am Eingang des Gebäudes kein Anzeichen für seine Existenz. Doch der Klub braucht keine Reklame. In der Technoszene ist TAG weltweit bekannt.
DJs wie vom Berliner Kollektiv Herrensauna haben hier schon aufgelegt. Zu den Besuchern gehören ausländische Touristen wie Einheimische. Neben der als dämonischer Engel verkleideten Türsteherin steht auf dem für China untypischen Plakat: „We strive to create an environment where everyone is welcome and free to express themselves“. Doch das wird wohl nicht mehr lange gelten.
Obwohl ich insgesamt fast 12 Jahre in China lebte, besuchte ich erst 2023, kurz nach der Pandemie, das erste Mal Chengdu, die Hauptstadt der Provinz Sichuan. Seitdem verschlägt es mich immer wieder in diese Stadt. Sie ist spürbar anders als die meisten chinesischen Großstädte. Das liegt vor allem an den Menschen.
Der Alltag in Chengdu ist langsamer, entspannter. Schon am frühen Nachmittag sind die vielen Teehäuser, Straßencafés und Restaurants voll. Besonders im Stadtteil Yulin. Die meisten Gäste hier sind jung, stylisch gekleidet, auffällig tätowiert, haben ein Skateboard unter dem Arm geklemmt, während sie ihren Iced Latte bestellen.
Arbeiten von 9 bis 9 an 6 Tagen die Woche
Die 996-Arbeitskultur, in der viele junge, hoch qualifizierte Chinesen von 9 bis 21 Uhr, 6 Tage die Woche arbeiten – unter hohem Druck und starker Konkurrenz für nur begrenzt viele Arbeitsplätze – scheint hier ein fremdes Konzept zu sein. Im Rest des Landes spottet man gern, dass die Leute in Chengdu nicht arbeiten.
Die Stadt liegt 1.800 Kilometer vom politischen Zentrum Peking entfernt. Über Jahrhunderte blieb die Stadt, die trotz ihrer peripheren Lage an wichtige historische Handelsrouten angebunden ist, von vielen Kriegen im Osten des Landes verschont. Die günstige Lage und der Reichtum der Stadt lockten Migranten aus ganz China her.
Darunter auch viele Intellektuelle und ethnische Minderheiten, die stark zur Vielfalt der Stadt und der Offenheit der Menschen beigetragen haben. Noch heute kommen viele Zuzügler – satte 5,82 Millionen zwischen 2010 und 2020. Nur Shenzhen und Guangzhou wuchsen mehr. Doch nur Chengdu ist unter dem Spitznamen Gaydu, die schwule Hauptstadt, bekannt.
„Nirgendwo in China kann man so offen schwul sein wie hier“, sagt mir Minghao (Name geändert). Der Schauspieler und Regisseur und sein Freund nehmen mich mit in den kommerziellen schwulen Klubpose. Im Pose läuft an diesem Abend K-Pop. Fast überall stehen junge, schlanke Männer mit gefärbten Haaren und engen Jeans an Stehtischen und betrinken sich.
„Die meisten von ihnen kommen nicht aus Chengdu“, erzählt mir Minghao. „Viele sind zugezogene Migranten oder Touristen aus benachbarten Provinzen, die hier zum ersten Mal ihre Sexualität voll ausleben können.“
Nicht nur Schwule zieht es nach Chengdu. Immer wieder höre ich, dass insbesondere seit Ende der Pandemie mehr Künstler zuziehen. Hauptgründe seien niedrige Mietpreise und eine starke Kunstszene. Auch die vergleichsweise freie Atmosphäre der Stadt wird genannt. Ich konnte sie im Herbst 2024 selbst erleben, als ich in Chengdu einen Kurzfilm drehte.
Es ging um einen ausländischen Bikepacker und einen alten Sichuanesen, die über einen gemeinsam verbrachten Tag Freundschaft schließen.Über vier Tage waren wir kreuz und quer in der ganzen Stadt mit einer großen Crew unterwegs, zu der auch mehrere Ausländer gehörten. Kein einziges Mal wurden wir aufgehalten oder dazu aufgefordert, unsere Erlaubnis zu filmen vorzulegen. „Nie im Leben hätten wir so leicht und ungestört in Peking filmen können“, sagte mir damals unser Regisseur.
Während meiner letzten Reise nach Chengdu im Mai sitze ich mit Minghao in einer Bar, in der auch vintage Kameras, Schallplatten und Klamotten verkauft werden. Unser Gespräch wird von einer Wechat-Mitteilung unterbrochen: Nach 11 langen Jahren soll TAG am kommenden Wochenende schließen.
Der Klub TAG ist nicht die einzige Anlaufstelle der Undergroundszene Chengdus, die in den vergangenen Jahren dicht machen musste. Funkytown, eine von TAG nicht weit entfernte Eckkneipe mit Tanzfläche, gibt es seit 2024 nicht mehr.
Funkytown hat insbesondere durch den Dokumentarfilm „The Last Year of Darkness“ einen legendären Status in Chengdu. Der Dokumentarfilm des US-Regisseurs Ben Mullinkosson verfolgt das Leben verschiedener Charaktere der Chengduer Undergroundszene, darunter den Drag-Performer Yihao und den russischen Techno-DJ Gennady. Funkytown und seine wilden Feten stehen dabei im Mittelpunkt. Auch TAG kommt im Film vor.
LGBTQ wird unsichtbar gemacht
Der hauptsächlich vor und während der Pandemie entstandene Dokumentarfilm scheint ein goldenes Zeitalter der Szene aufgenommen zu haben und ist unter chinesischen Filmemachern sehr beliebt – obwohl man in China nur mit VPN auf ihn zugreifen kann. Als ich Minghao frage, ob das Chengdu, das in dem Film dargestellt wird, noch so existiert, sagt der Schauspieler nur: „Der Film ist die Inszenierung eines gemeinsamen Traums, der in letzter Zeit geplatzt ist.“
Wie im Rest des Landes, sinkt auch in Chengdu die Schwelle der Toleranz der Regierung gegenüber der Alternativ- und LGBTQ-Szene. Vor allem seit 2021 versucht die chinesische Regierung, aktiv Maskulinität unter jungen chinesischen Männern zu fördern. Bedeutet: Keine Pride-Veranstaltungen mehr. Keine femininen Männer im Fernsehen. Keine offen politisch engagierte LGBTQ-Organisationen.
Das gilt auch für Chengdu. Die Drag-Veranstaltungen, die in den Szenen von „The Last Year of Darkness“ oft zu sehen sind und mit denen in den kommerziellen Klubs der Stadt früher offen geworben wurde, werden hier inzwischen auch immer weiter in den Untergrund gezwungen und sind für Außenseiter nur schwierig zu finden.
„Die lokale Regierung wird in Chengdu zwar strenger, aber im Vergleich zu anderen chinesischen Großstädten ist es hier immer noch viel besser“, sagt mir Yucheng (Name geändert), der als Filmproduzent an unserem Set mitgearbeitet hat. Er ist aus der Provinz Xinjiang nach Chengdu gezogen.
Abends nimmt er mich zu anderen Bars und Klubs mit, die Techno spielen und eine ähnliche Klientel wie TAG anziehen. Sie sind rappelvoll. Auch die kommerziellen Schwulenklubs machen, solange sie der Polizei nicht zu sehr auffallen, weiterhin ein gutes Geschäft.
An Samstagnachmittag, also dem Tag, an dem TAG endgültig schließen soll, sitze ich mit Minghao in einem Kinosaal bei der Filmpremiere des Films einer Freundin. Mit unter den Zuschauern: mehrere Mitglieder der Crew von „The Last Year of Darkness“ inklusive DJ Gennady und Ben Mullinkosson. Nach der Premiere gehen wir als größere Gruppe zusammen Abendessen, bevor es gemeinsam ein letztes Mal ins TAG geht.
Beim Essen wird spekuliert, warum der Klub geschlossen wird. Es scheinen viele Faktoren im Spiel zu sein, unter anderem auch das schlechte Geschäft. Die Preise seien für viele der regulären, ohnehin nicht viel verdienenden Besucher in der schwächelnden chinesischen Wirtschaft nicht mehr bezahlbar. Der Klub ist selten so voll wie früher.
Doch der Hauptgrund soll der Druck der Polizei sein. Gerüchten zufolge hat der Stadtteil einen neuen Polizeichef aus Peking. Schon seit Monaten muss der Klub um 2 schließen, ungewöhnlich früh für einen Technoklub und schlecht fürs Geschäft. Jetzt muss er ganz dicht machen, zumindest ist das die offizielle Linie.
Doch immer noch nicht ganz klar ist: Wird der Klub in wenigen Monaten am selben Ort unter einem anderen Namen wieder aufmachen können? Wird TAG einfach umziehen? Oder wird er komplett schließen? Vieles wird sich erst in den nächsten Monaten ergeben, erzählt mir die Besitzerin später im Klub.
Egal. Es ist und bleibt eine besondere Nacht. Der Klub ist voller, als ich ihn je zuvor gesehen habe. Der kanadische DJ Priori legt auf. Doch auch heute muss sein Set schon um 2 enden. Es dauert, bis alle aus dem Klub sind. Viele umarmen sich, baden noch kurz zwischen den über 11 Jahre des Feierns vernarbten Wänden in Nostalgie. Ein paar Tränen tropfen auf den klebrigen, von Kippen bedeckten Boden.
Bei der Afterparty im ebenfalls gut versteckten Yitong-Record-Laden im Gebäude nebenan lehnt sich Gennady draußen rauchend gegen das Geländer. Er legt schon seit 2014 in Chengdu auf. Auch im TAG. Er scheint aber nicht sonderlich bedrückt zu sein.
Macht er sich keine Sorgen, dass die Szene, so wie man sie jetzt kennt, bald verschwinden wird? „Vielleicht wird es nichts auf dem Niveau von TAG geben“, sagt er mir. Doch das sei ihm auch nicht so wichtig. „Es sind die Leute, nicht die Orte, die die Szene hier ausmachen. Solange Chengdu weiter die gleiche Art von Menschen in die Stadt lockt, wird es immer was geben.“
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