Die Wahrheit: Abgefahrene Neunzig
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die Leserschaft an einem Poem über ein Geburtstagskind der betagteren Art erfreuen.
Die Straße meines Lebens ist zwar ramponiert.
Ich roll durch sie ja schon seit vielen Jahren.
Doch weiß ich ungefähr, wohin sie führt
und will sie auch noch ein paar Jahre fahren.
Noch ist ja keine Straßensperre aufgebaut,
noch kann ich keine Abbruchkante finden.
Baustellen? Klar, doch die sind mir vertraut.
Nur häufen sie sich, werden kaum verschwinden,
Der Straßenbau kommt nicht mehr recht voran.
Und ich muss länger vor der Ampel stehen.
Umleitungen gibt es zwar. Ja, und ich kann
die Baustellen, wenn ich es will, umgehen.
Doch ob mir da die Orientierung noch gelingt?
Ganz ehrlich? Auf ner unbekannten Strecke?
Die andrerseits ein bisschen Spannung bringt,
wenn eine neue Gegend ich entdecke.
Klar, meine Reifen sind schon ziemlich alt
und fürchten jedes Schlagloch auf der Piste.
Oft such ich auf dem Seitenstreifen Halt
und sitz ganz still in meiner morschen Kiste.
Und seh, wie dort das rote Mohnfeld prahlt,
sich die Kastanie dehnt in ihrer Blüte.
Und da: Mein altes Dorf, wie neu für mich gemalt.
Jetzt weiterfahren? Kommt nicht in die Tüte.
Ich seh im Rückspiegel, wo ich gefahren bin,
und viele Bilder tauchen auf aus Straßengräben.
Gesichter, Orte schieben sich mir in den Sinn,
die einen starr und tot, doch viele blühen, leben.
Ja, meine Straße ist schon ziemlich ramponiert.
Wie lang ich sie noch fahre, werd ich kaum begreifen.
Doch ist auf meiner langen Fahrt so viel passiert.
Für diese Bilder halt ich auf dem Seitenstreifen.
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