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Queeres LebenDie Antwort auf Angriffe muss mehr Organisation sein

Worauf ist für queere Menschen noch Verlass, wenn Pride-Paraden selbst in EU-Staaten einfach so verboten werden können?

Pride in Budapest: Im Kampf gegen das Patriarchat und Queerfeindlichkeit kann der Staat nur ein temporärer Verbündeter sein Foto: Alessandro Serrano/Avalon/imago

E s ist 19.10 Uhr, als ich in Budapest ankomme. Seit zwei Stunden schaue ich permanent auf mein Smartphone. Während mein Zug über die ungarisch-österreichische Grenze rollte, beschloss das ungarische Parlament das Verbot der Pride-Parade. Live.

Bevor ich losfuhr, habe ich mir über die bevorstehende Parlamentsentscheidung keine Gedanken gemacht. Während der Fahrt fiel sie mir irgendwann ein und kam mir vor wie ein verrückter Zufall.

In Budapest bin ich zum ersten Mal. Vom Bahnhof holt mein Freund mich ab. Wir fahren mit der Metro zu seiner WG – beschrieben als „gegenüber vom Parlamentsgebäude“. Und tatsächlich, bei der Ankunft leuchtet das neugotische Gebäude mich mit seiner hellen Fassade an. Harmlos, oder?

Die nächsten Tage werde ich in dieser Stadt verbringen, Lángos essen und eine gute Zeit haben. Aber ich verhalte mich anders, als ich es während der Prides in Prag, Wien, Paris und selbst Tirana tat. Ich ziehe mich anders an und bin skeptisch gegenüber den Menschen, die mir begegnen. Und das in einer europäischen Großstadt.

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Und ich frage mich: Was beschützt Menschen wie mich in Deutschland davor, dass wir uns irgendwann nicht mehr offen queer auf die Straße trauen? Die EU jedenfalls nicht. Bleibt zu hoffen, dass das deutsche Rechtssystem stabil genug ist. Aber was, wenn nicht? Trump hat es in den USA geschafft, den Rechtsstaat zu einem zahnlosen Tiger zu machen. Orbán hat Ungarn zu einer Autokratie umgebaut, in der kei­ne*r seinem Wort widersprechen darf. Was lässt mich sicher sein, dass das in Deutschland nicht möglich wäre?

Als ich vor wenigen Wochen zum CSD in Wetzlar fuhr, standen dort plötzlich 35 gewaltbereite Neonazis. Sie waren für mich aber keine Bedrohung. Die gegenwärtige Rechtsordnung hielt sie in Form von Hunderten Po­li­zis­t*in­nen davon ab, uns zu verprügeln. Dabei machten sie einen traurigen und bemitleidenswerten Eindruck: wie sie am Bahnhof herumlungerten, in deutlich zu großen, ausgewaschenen T-Shirts, auf denen „88“ oder „Blut, Ehre, Stolz“ stand.

Die Polizist*innen, die uns vor ihnen beschützten, wurden zur Brandmauer aus Versammlungsrecht und Grundrechten. Doch Ungarn und die USA zeigen: Es gibt keinen Verlass darauf, dass die politischen Verhältnisse sich nicht derart ändern, dass dieselben Po­li­zis­t*in­nen, die uns in Wetzlar beschützten, eines Tages gegen mich und andere queere Menschen eingesetzt werden. Wenn die Rechtsradikalen einmal gewinnen, setzen sie alles daran, uns aus der Gesellschaft zu vertreiben, uns zu sanktionieren und uns das Leben schwer zu machen.

Wir können uns im Zweifel nicht auf ratifizierte Menschenrechte, das Versammlungsrecht oder unsere Grundrechte verlassen. Der Grad zwischen autoritären und demokratischen Verhältnissen ist offenbar so dünn, dass beides – Wetzlar und Budapest – koexistieren kann. In derselben EU, mit derselben Menschenrechtscharta und denselben „Grundwerten“.

Im Kampf gegen das Patriarchat und Queerfeindlichkeit kann der Staat nur ein temporärer Verbündeter sein. Wir werden uns also viel besser organisieren müssen, wenn wir nicht umfallen wollen, sobald der politische Wind etwas stärker von rechts weht. Das heißt, die Pride wieder deutlicher als Demonstration auszurichten und die politische Situation in Ländern wie Ungarn oder den USA auf jeder CSD-Bühne zwischen Berlin und Nierstein zu thematisieren. Für queere Menschen bedeutet es auch, gemeinsam zu Prides anzureisen, lokale Schutzräume in den Veranstaltungsorten zu kennen und stets damit zu rechnen, dass es nicht wie geplant läuft. Pride muss wohl wieder riot werden.

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