Prozess gegen Lieferdienst Wolt: Immer diese Einzelfälle
Erneut ist der Lieferdienst Wolt in Berlin wegen ausbleibender Lohnzahlung angeklagt worden. Das Unternehmen will mit der Sache nichts zu tun haben.

Zwischen November 2022 und Januar 2023 hatte S. im Auftrag eines anderen Unternehmens für den Lieferservice gearbeitet. Der Lohn von weit über 3.000 Euro werde ihr bis heute vorenthalten, sagt S. Wolt hält dagegen und bestreitet ein Arbeitsverhältnis. Stattdessen verweist das Unternehmen auf eine IMOQX GmbH, über die S. das Essen ausgeliefert hat.
Dabei handele es sich jedoch nicht um ein Subunternehmen, sondern um einen sogenannten Flottenpartner, der Fahrer:innen selbstständig anstellt, wie Wolt-Anwalt Nicolas Roggel erklärte. Er sieht seinen Mandanten damit auch nicht in der Verantwortung. Der feine Unterschied zwischen einem Flottenunternehmen und Subunternehmen besteht darin, dass Wolt – im Fall von Subunternehmertum – haften müsste.
Der Anwalt der Klägerin, Martin Bechert, bezweifelt die Seriosität des Flottenpartners und wirft der Gegenseite die Zusammenarbeit mit „Kriminellen“ vor. In einer gemeinsamen Führungsvereinbarung zwischen Wolt und der IMOQX GmbH habe der Flottenpartner nur mit seinem Vornamen unterschrieben, was „absolut unüblich“ sei, so Bechert. Dass seine Mandantin zudem nichts von ihrer vermeintlichen Anstellung bei diesem Flottenunternehmen gewusst habe, mache zudem die Undurchsichtigkeit des Subunternehmer-Systems von Wolt deutlich. Bechert sagte, es sei „hart zu sehen“, dass das Unternehmen keine Einsicht zeige.
Lohnbetrug auf Kosten migrantischer Arbeitskräfte
Wolt-Anwalt Nicolas Roggel sieht das anders. Er sprach von einem „funktionierenden System“ zwischen Wolt und seinen Flottenpartnern. Der Vorwurf der Anklage, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine systematische Auslagerung von Verantwortung von Wolt an Subunternehmen handelt, sei unberechtigt: „Wir drängen sicherlich niemanden in solche Beschäftigungsverhältnisse. Das war ein aus dem Ruder gelaufener Flottenpartner, der das nicht im Griff hatte.“
In der Tat erweckt das Unternehmen, in dessen Auftrag S. Essen für Wolt auslieferte, einen dubiosen Anschein: Als S. im Oktober 2023 im Internet ein Stellengesuch für Kurierfahrer:innen bei Wolt sah und sich daraufhin mit einem Wolt-Mitarbeiter in Verbindung setzte, wurde sie zu einem Handyladen an der Karl-Marx-Straße in Neukölln geschickt. Dort habe sie ihre Stammdaten angegeben und Zugang zur Wolt-App erhalten. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag habe es nicht gegeben.
Gegen einen Einzelfall sprechen auch Berichte aus dem Jahr 2023 von über 100 Wolt-Lieferant:innen, die wie S. bei einem vermeintlichen Flottenpartner angestellt waren und um ihren Lohn betrogen worden sein sollen. Die ausstehenden Zahlungen sollen sich seinerzeit auf insgesamt rund 100.000 Euro belaufen haben.
Wie S., die aus Indien mit einem Studentenvisum nach Berlin kam, besitzen die meisten der Beschäftigten keinen deutschen Pass und sind aufgrund ihres rechtlichen Status besonders anfällig für prekäre Arbeitsverhältnisse. Dass bislang nur zwei weitere Angestellte gerichtlich gegen das Lieferunternehmen vorgegangen sind, hängt nicht zuletzt mit der Angst vor negativen Auswirkungen auf ihren Aufenthaltstitel zusammen.
Kein systematisches Vorgehen erkennbar?
Wolt selbst bot der Klägerin am Donnerstag vor Gericht eine Einigung über 2.000 Euro an. S. lehnte ab. „Meiner Mandantin geht es nicht nur um das Geld, sondern vor allem um ein festes Arbeitsverhältnis“, erklärte Arbeitsanwalt Bechert. Ihre Forderung lautet stattdessen: ein neues Arbeitsverhältnis mit Wolt. Von der Gegenseite wurde dem eine Absage erteilt: „Es kann kein neues Beschäftigungsverhältnis geben, da nie eines bestanden hat.“
Nach einer halbstündigen Beratung verkündete der Richter das Urteil: Aufgrund unzureichender materieller Beweislage, allen voran über das Zustandekommen eines Arbeitsvertrages, könne sich kein Arbeitsverhältnis zwischen Wolt und der Klägerin nachweisen lassen. Auch ein systematisches Vorgehen lasse sich daraus nicht ableiten. Zudem hätte S. das Einstellungsverfahren in einem Handyladen merkwürdig vorkommen müssen, da sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt direkt bei Wolt angestellt war und dort mit einem anderen Prozedere konfrontiert war.
Die breite Solidarisierung mit der Fahrerin machte indes deutlich, dass der Kampf für faire Arbeitsbedingungen bei Wolt mit dem Urteil nicht enden wird. Die Klägerin kann gegen das Urteil noch Berufung beim Landesarbeitsgericht einlegen.
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