: Die Farben sind plötzlich andere
Die ukrainische Autorin Tamara Duda hat einen Roman über die Russifizierung des Donbass ab 2014 geschrieben. Sie selbst half als Freiwillige der Armee
Von Jens Uthoff
Schleichend verändert sich die Stadt Donezk vom Frühjahr 2014 an; Stück für Stück, Tag für Tag. Russische Waren ersetzen ukrainische Waren, russische Feste werden statt ukrainischen gefeiert, die russische Sprache soll anstelle der ukrainischen gesprochen werden. Das imperialistische Nachbarland beginnt, den Donbass zu destablisieren, Separatisten rufen die Volksrepublik Donezk aus, sie säen Angst, Misstrauen und Ungewissheit. „Man darf niemandem, wirklich niemandem trauen, außer sich selbst, und selbst das nicht immer“, sinniert die Ich-Erzählerin des Romans „Donezk Girl“, als sie erfährt, dass ein Freund nun angeblich auf Seite der Separatisten kämpfen soll.
Die ukrainische Übersetzerin und Journalistin Tamara Duda lebt zu dieser Zeit, 2014, in Kyjiw, sie kennt die Stadt Donezk kaum. Doch nach der Annexion der Krim und dem einsetzenden Krieg im Donbass will sie etwas tun. Sie beginnt als Freiwillige für die ukrainische Armee zu arbeiten, leistet humanitäre Hilfe, liefert militärisches Material an die Front in der Ostukraine. Über diese Zeit hat sie den Roman „Donezk Girl“ geschrieben (im Original: „Dozja“, „Tochter“), der nun endlich auch auf Deutsch vorliegt. In der Ukraine ist er 2019 erschienen und verkaufte sich mehr als 10.000 Mal. 2022 erhielt Duda für das Werk den Taras-Schewtschenko-Preis.
In ihrem Heimatland ist die 49-Jährige eine gefeierte Schriftstellerin. Um die deutsche Ausgabe des Romans vorzustellen, ist sie in diesem Frühjahr nach Deutschland gereist. Zum Gespräch trifft die taz sie in Leipzig. Duda hat dunkles, schulterlanges Haar, eine klare, durchdringende Stimme, trägt ein traditionelles ukrainisches Oberteil mit eingestickten Motiven. Donezk sei für sie ein Symbol: „Die Stadt war ein kulturelles und industrielles Zentrum vor den Zeiten der Volksrepublik, es gab Universitäten, Theater, urbanes Leben“, sagt sie. „Als meine Protagonistin aber ins besetze Donezk reist, ist ihr die Stadt völlig fremd. Die Farben sind anders, die Geräusche sind anders, die Sprache ist anders.“
„Donezk Girl“ handelt vom Beginn des russisch-ukrainischen Kriegs und erzählt das prototypische Beispiel der Russifizierung einer Stadt. Die Erzählerin, die „Töchterchen“ genannt wird (daher auch der Originaltitel), kommt aus einem westukrainischen Dorf in die Großstadt Donezk und erlebt dort, wie die separatistischen Truppen versuchen die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. „Töchterchen“ ist Kunsthandwerkerin, arbeitet zunächst als Glasmalerin und fertigt Mosaike. Als sie realisiert, was passiert, beginnt sie als Freiwillige die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen: Sie kocht für die Armee, besorgt Material, Munition. Sie trifft auf Menschen, die das Geschehen herunterspielen, sie erlebt, wie Donezk zur „entleerten Stadt“ wird, wie die Menschen dort verharren und verstummen.
Tamara Duda erzählt hier zum Teil von ihren eigenen Erlebnissen. In der Ukraine wird Duda zwischen 2014 und 2016 zunächst in den sozialen Medien bekannt; auf Facebook schreibt sie über die Ereignisse in der Ostukraine unter dem Pseudonym Tamara Horikha Zernya („Horikha Zernya“ heißt „Walnusskern“ und spielt auf ein berühmtes Gedicht von Iwan Franko an, aus dem auch ein ukrainisches Folklied wurde). Dudas Followerschaft wächst durch ihre Posts stetig, und 2017 bittet eine Frau sie, sie solle doch unbedingt einen Roman über ihre Zeit als Freiwillige schreiben. Duda entgegnet: „Das werde ich tun.“ Und hält Wort.
Heute glaubt sie, der Roman fülle auch eine Leerstelle in der jüngeren ukrainischen Literaturgeschichte. „Es gab noch nicht allzu viel Literatur zu der sukzessiven Machtübernahme der Russen im Donbass“, sagt sie. Bei der Recherche für das Buch habe sie persönliche Erfahrungen abgeglichen mit den Berichten vieler Zeug:innen, die sie befragt habe. Ihre Protagonistin ist angelehnt an eine Person, die sie damals kennengelernt hat: Natalia Gerasymenko, genannt Elfe, baute damals eine Gruppe namens „Der Donbass sind wir“ auf. Sie versorgte – wie auch Duda – ukrainische Soldat:innen mit Lebensmitteln, kugelsicheren Westen, taktischen Brillen.
Duda horcht in ihrem Roman in die Stadt und in das ganze Land hinein. Auch Ukrainer:innen wollen seinerzeit zum Teil noch nicht wahrhaben, dass im Wortsinne die Grenzen verschoben werden – im Roman führt die Ich-Erzählerin folgenden inneren Monolog: „Aber auch meine große Ukraine schwieg, als ob sie in sich hineinspürte – wie es wohl ist, ohne Arm zu leben? Oder betrog ich mich wieder einmal selbst und wir waren gar kein Arm, nicht einmal ein Finger, sondern eine Blinddarmentzündung?“ Den Abrieb des Donbass durch russische Gewalt im Alltäglichen nachzuzeichnen, gelingt der Autorin in „Donezk Girl“ hervorragend. Der Roman fängt zudem gut ein, welches Chaos herrschte, welche zuvor undenkbaren Bündnisse die Kriegssituation erforderte. „Die Zeiten waren eben so, die Welt stand Kopf, alles war durcheinander, der Rabbi diente im Rechten Sektor (einer rechtsextremen Gruppierung, die während des Euromaidans entstand; Anm. d. Red.), Freiwillige schliefen auf Sofas in der Synagoge“, heißt es in einer Passage. Darin zeigt Duda, wie unübersichtlich die Gemengelage nach 2014 war und dass man sich nicht immer aussuchen kann, an wessen Seite man kämpft, wenn man das eigene Land gegen Aggressoren verteidigt.
Eine wichtige Inspiration für Duda ist der berühmte ukrainische Schriftsteller Wassyl Stus. Stus lebte und arbeitete als Dichter und Dissident zu Sowjetzeiten im Donbass, er zählt zu der Gruppe der „Sechziger“, die sich für die ukrainische Autonomie einsetzten. Stus bezahlte dafür mit dem Leben, starb 1985 im Gulag. Duda spielt in ihrem Roman geschickt darauf an, dass die Geschichte sich seit 2014 wiederholt. Man darf die Autorin durchaus in der Nachfolge von Wassyl Stus sehen, auch ihr Buch ist kultureller Widerstand gegen die russische Aggression und Annexion. Heute bekomme sie Nachrichten aus den besetzten Gebieten, dass ihr Roman dorthin geschmuggelt worden sei, erzählt sie. Mancherorts soll er sogar in der Erde vergraben worden sein – auf dass andere ihn eines Tages dort entdecken.
Duda lebt heute wieder in Kyjiw. Sie weiß nicht, ob es richtig ist zu bleiben. Sie begibt sich auf Lesereisen, aber es fällt ihr schwer, nicht in der Nähe ihrer drei Kinder zu sein. „Jedes Mal, wenn ich mich von ihnen verabschiede, habe ich das innere Gefühl, dass ich sie zum letzten Mal sehe“, sagt sie. „Da ist eine unproduktive, irrationale, aber anhaltende Angst in mir.“ Trotz aller Widrigkeiten hat sie die Arbeit an ihrem neuen Roman abgeschlossen. „Sheptukha“ („Flüsterer“) heißt er, er handelt von der Lebenskrise einer Frau im mittleren Alter, die sich vor dem Panorama des russischen Angriffskriegs abspielt. Im Frühjahr erscheint er in der Ukraine.
Tamara Duda nutzt im Gespräch oft die Sprachformel „Nach unserem Sieg …“ Im ersten Jahr der Vollinvasion hörte man diesen Ausdruck noch öfter von Ukrainer:innen, Duda hält weiterhin daran fest. „Nach unserem Sieg werden neue Bücher über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Donbass geschrieben“, sagt sie etwa. Für sie ist klar: Die Stadt Donezk hat zentrale Bedeutung, wenn es um den Ausgang des Kriegs geht. „Der Sieg der Ukraine wird dann kommen, wenn die ukrainische Armee Donezk wieder einnimmt“, sagt sie. Hört man ihr zu, klingt es, als sei das nur noch eine Frage der Zeit.
Tamara Duda: „Donezk Girl“. Aus dem Ukrainischen von Annegret Becker, Alexander Kratochvil und Lukas Joura, Mauke Verlag, Weimar 2025. 268 Seiten, 24 Euro
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