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Hätte der Zweite Weltkrieg verhindert werden können?

Der Siegeszug der Nazis in Europa war nicht unausweichlich. Großbritannien und Frankreich verstanden es nicht, ihn vorzeitig zu unterbinden

Einmarsch ohne Vorankündigung in das entmilita­risierte Rhein­land: Nazis in Koblenz am rechten Ufer des Rheins 1936 Foto: ap/picture alliance

Von Klaus Hillenbrand

Idyllischer könnte die Lage kaum sein: Stresa – diese Stadt befindet sich am Lago Maggiore an der Bucht, in der die wunderschönen Baromäischen Inseln zu Hause sind. Welch ein Anblick.“ So wirbt eine norditalienische Kommune heute um Touristen. Es wäre durchaus denkbar, dass Stresa nicht nur für einen entspannten Urlaub stünde. Sondern auch für die Erhaltung des Friedens in Europa in den 1930er Jahren, für einen Stopp von Hitlers mörderischer Expansionspolitik, bevor diese so richtig begonnen hätte. Dafür, dass der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden hätte.

Hätte, hätte, hätte.

80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa stellt sich die Frage, ob dieser tödlichste Krieg aller Zeiten, ob der Holocaust an den Jüdinnen und Juden in Europa und all die anderen Abscheulichkeiten hätten verhindert werden können. Angesichts der expansiven Gelüste von Wladimir Putins Regime in Russland kommt dieser Frage eine gewisse Aktualität zu, auch wenn es dem Autor fern liegt, das rassistisch und antisemitische grundierte Hitler-Regime mit der heutigen Regierung in Moskau in einen Topf zu werfen. Mindestens in einem Punkt allerdings existieren Analogien: beim Unwillen, das Völkerrecht und international anerkannte Grenzen zu achten. Deshalb hat der Versuch einer Beantwortung der Frage nach einer Verhinderung des Zweiten Weltkriegs durchaus etwas mit uns im Jahre 2025 zu tun.

Der linksliberale Journalist Leopold Schwarzschild, der im Pariser Exil Das Neue Tagebuch herausbrachte, schrieb mitten im Krieg rückblickend: „Wisst Ihr, dass Deutschland jetzt rüstet? Macht Ihr Euch klar, dass Ihr nur eine ganz kurze Gnadenfrist habt? Begreift Ihr, dass die zügellose Brutalität, mit der die Nazi ihre Macht im Innern verwenden, nur eine Ankündigung dafür ist, was sie auch nach außen verwenden werden? Was gedenkt Ihr zu tun? Sie gedachten, nichts zu tun.“ Schwarzschilds Kritik gilt bis weit in die 1930er Jahre. Erst kurz vor Kriegsbeginn realisierten die Westmächte, dass ihre Bewaffnung unzureichend war.

Mindestens dreimal wäre es möglich gewesen, den aggressiven militärischen Kurs des Nazi-Regimes aus dem Tritt zu bringen. Zuallererst denkt man dabei an das Münchener Abkommen von 1938, als Großbritannien und Frankreich der Annexion des tschechoslowakischen Sudetenlands durch das Deutsche Reich zustimmten und damit die Zerschlagung eines demokratischen Staats in der Mitte Europas billigten. Doch schon vorher hatten die Westmächte versagt. Zum Beispiel nach Stresa.

Stresa war und ist nicht nur idyllischer Badeort. Die Kleinstadt galt in den 1930er Jahren auch als international besonders gut angebundener Ort, denn hier bestand ein Unterwegshalt für den berühmten Simplon-Orient-Express, der Paris – mit Anschluss aus Calais und London – mit Venedig und Istanbul verband. Und so kam es, dass dort vom 11. bis zum 14. April 1935 Staatsmänner aus drei Ländern tagten, um die Expansionsgelüste Hitlers einzugrenzen: Frankreichs Premierminister Flandin und Außenminister Laval, Premierminister McDonald und Außenminister Simon aus dem Vereinigten Königreich und als Gastgeber der italienische Diktator Mussolini, der damals noch nicht auf Hitlers Linie mitschwamm.

Es bestand Grund zur Besorgnis

Der Stresa-Pakt, den die drei Mächte abschlossen, unterstrich, dass Deutschland die Grenze zum Nachbarn Frankreich ebenso achten müsse wie die Entmilitarisierung des Rheinlands. Es bestand Grund zur Besorgnis: Die Nazis hatten im März 1935 zuerst die Wiedereinrichtung der Luftwaffe verkündet und kurz darauf die allgemeine Wehrpflicht erklärt. Beides verstieß gegen den Versailler Friedensvertrag von 1919. Doch von lahmen Protesten abgesehen hatten London und Paris diese Aufrüstungsschritte hingenommen.

Der Stresa-Pakt bekräftigte die Verträge von Locarno, in denen sich Deutschland, Frankreich und Belgien 1925 dazu verpflichtet hatten, einander nicht anzugreifen, die Grenzen zu respektieren und ein entmilitarisiertes Rheinland zu garantieren. Damals war Gustav Stresemann Reichsaußenminister gewesen, ein ehemaliger Monarchist und Konservativer zwar, aber doch jemand, dessen Wort etwas galt. Jetzt bestimmte Adolf Hitler die Politik im Deutschen Reich, der Verträge brach wie er wollte. Aber das wollte nicht jeder wahr haben.

Die Rückkehr der deutschen Armee ins Rheinland war eines der Herzensanliegen der Nazis. Lange genug hatten die Völkischen die Besatzung durch alliierte Truppen dort gegeißelt und ein Bild von lüsternen schwarzen Soldaten aus den französischen Kolonien fabriziert, die deutschen Frauen nachstellen würden, die „schwarze Schmach“ genannt. Die Alliierten waren 1930 abgezogen, doch die Deutschen nicht nachgerückt.

Am 7. März 1936 ließ Hitler die Wehrmacht ohne Ankündigung ins Rheinland einmarschieren. Das war zweifellos ein gleich dreifacher Vertragsbruch – gegen Versailles, gegen Locarno, gegen Stresa. Die deutsche Armee war 1936 noch schwach ausgerüstet, es wäre Frankreich leicht gefallen, sie zu stoppen, sagen Militärexperten. Hitler fürchtete einen solchen Angriff, Pläne für einen deutschen Rückzug lagen angeblich schon in der Schublade. „Wären die Franzosen damals ins Rheinland eingerückt, hätten wir uns mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen“, soll Hitler später gesagt haben.

Doch nichts geschah, außer dem üblichen Protest. Frankreichs Regierung fürchtete die Kosten einer Mobilmachung und schielte auf die kommenden Wahlen. Die Konservativen in London waren schon gar nicht bereit für einen Waffengang. Linke Demonstranten daheim plädierten für den Frieden. Und der Stresa-Pakt war geplatzt, weil Mussolini die Seiten gewechselt hatte. Hitler hatte hoch gepokert und gewonnen.

Der britische Historiker Ian Kershaw schreibt: „Hätten die Franzosen die vorrückenden Truppen durch eine Demonstration militärischer Stärke zum Halten gebracht, wäre Hitlers Ansehen bei den deutschen Militärs und in der Öffentlichkeit bedeutend geschwächt worden. Welche Folgen das gehabt hätte, kann man nicht wissen. Doch es ist vorstellbar, dass Hitler, wäre er mit dem Versuch, das Rheinland 1936 zu remilitarisieren, schmählich gescheitert, seine weiteren Schritte nicht hätte durchsetzen können.“

Hätte, hätte, hätte.

Knapp zwei Jahre später, im November 1937. Lord Halifax, der bald britischer Außenminister werden sollte, machte Hitler gegenüber bei einem Treffen deutlich, dass sich das Vereinigte Königreich einen veränderten Status von Österreich und der Tschechoslowakei vorstellen könnte, nur lege man auf eine „friedliche Entwicklung“ Wert. Halifax zählte zu den Protagonisten einer Appeasementpolitik, also einer Beschwichtigung gegenüber den Nazis. Sie sollten in Verhandlungen besänftigt werden. Die nahmen’s mit Kusshand zur Kenntnis.

Im März 1938 annektierte Deutschland Österreich. Die Proteste hielten sich in Grenzen. Als nächstes sollte die Tschechoslowakei an der Reihe sein.

Großbritanniens Premier Neville Chamberlain war davon überzeugt, Hitler würde es bei einer Grenzverschiebung der Tschechoslowakei bei der Annexion des Sudentenlands belassen. Der Konservative besaß bei seinen Verhandlungen mit Hitler auf dem Obersalzberg auch ein Mandat Frankreichs. Die Nazi-Propaganda malte unterdessen ein Zerrbild von der furchtbaren Unterdrückung der Sudetendeutschen. Hitler drohte mit einem Einmarsch und war offenbar auch zu einem Krieg mit den Westmächten bereit.

Am 30. September 1938 unterzeichneten Hitler, Chamberlain, der französische Premier Édouard Daladier und Benito Mussolini das Münchener Abkommen. „Frieden für unsere Zeit“, nannte Chamberlain den Vertrag. Er sah im Kern die Abtrennung des Sudetenlands an das Deutsche Reich vor. Das Land, das da verstümmelt wurde, die Tschechoslowakei, war weder bei den Verhandlungen noch bei der Unterzeichnung vertreten. Die Tschechoslowakische Republik protestierte „vor der ganzen Welt gegen die Beschlüsse von München, die einseitig und in Abwesenheit der Tschechoslowakei gefasst wurden“, hieß es in einer Erklärung. Dann kapitulierte das Land vor der Übermacht des NS-Regimes.

Feier in London, Besetzung in Prag

Nach Abschluss des Münchner Abkommens feierte eine riesige Menschenmenge in London ihren Premier, der den Ausbruch eines europäischen Kriegs vermieden hatte. Chamberlain sah sich umjubelt und bestätigt. Doch anders als von ihm erwartet, machten die Nazis nicht im Sudetenland Halt. Im März 1939 besetzte die Wehrmacht Prag. Es war das Ende einen selbstständigen Staates, noch vor Ausbruch des Kriegs. Und es war das traurige Ende der Appeasementpolitik.

Hätte eine härtere Haltung Großbritanniens und Frankreichs in der Sudetenkrise den Ausbruch des Kriegs verhindern können? Darüber wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Möglicherweise wäre der Krieg schon 1938 ausgebrochen. Vielleicht hätten die Westmächte damals noch bessere militärische Karten gehabt.

Hätte, hätte, hätte.

„Alles, wofür ich gearbeitet habe, alles, was ich erhofft habe, liegt in Trümmern“

Neville Chamberlain, ehemaliger britischer Premierminister

Als der NS-Staat am 1. September 1939 Polen überfiel, lag die militärische Übermacht eindeutig auf deutscher Seite. Aber Großbritannien hatte nach dem Bruch des Münchner Abkommens vorgesorgt und eine Garantie­erklärung für Polen abgegeben, der sich Frankreich anschloss. Sollte Polen angegriffen werden, versprach man militärische Hilfe. Damit drohte Deutschland ein Zwei-Fronten-Krieg, so wie im Ersten Weltkrieg. Die Wehrmacht hatte im Westen nur schwache Kräfte stationiert. Möglicherweise hätten sie einem Eingreifen Frankreichs nicht Stand gehalten. Dazu hätte Großbritannien das Deutsche Reich aus der Luft angreifen können. Ein Krieg wäre nicht zu verhindern gewesen, aber dessen Ausgang hätte vielleicht ganz anders ausgesehen.

Hätte, hätte, hätte.

Doch auch in diesem historischen Moment geschah – nichts. Die Royal Air Force warf über Deutschland ein paar Flugblätter ab. Erst als Warschau umzingelt und Polen vor der Kapitulation stand, drangen französische Soldaten in einige deutsche Dörfer wie Bübingen im Saarland ein. Doch dieser militärische Vorstoß besaß höchstens symbolische Bedeutung.

Noch während Franzosen und Briten über das weitere Vorgehen berieten, überfiel auch die Sowjetunion Polen im Einvernehmen mit den Deutschen – gemäß dem damals noch geheimen Pakt zur Aufteilung von Interessensphären in Osteuropa, den die deutsche und die sowjetische Regierung am 24. August geschlossen hatten, später „Hitler-Stalin-Pakt“ genannt. Polen wurde alleingelassen, besetzt und aufgeteilt, der Zweifrontenkrieg fand nicht statt. Im Folgejahr überfielen die Deutschen Frankreich, nachdem sie schon Norwegen, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Luxemburg erobert hatten. Weitere Staaten folgten. Wir wissen, wie das Ganze endete.

Neville Chamberlain erklärte am 3. September 1939: „Alles, wofür ich gearbeitet habe, alles, was ich erhofft habe, alles, woran ich in meinem politischen Leben geglaubt habe, liegt in Trümmern.“

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