: Lieblose Städte, kalte Städte
Was von den Bombern der Alliierten verschont geblieben war, fiel den Architekten der jungen Bundesrepublik zum Opfer. Bis heute sind deutsche Städte von der funktionalistischen Härte der Jahrhundertmitte geprägt
Von Gunnar Hinck
An einem Straßenrand in Berlin-Schöneberg erinnert ein schlichtes Denkmal an die Synagoge, die dort einmal stand. „Nach der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger durch die Nationalsozialisten verlor sie ihre Funktion und wurde 1956 abgerissen“, heißt es in der Inschrift lakonisch. Abgesehen vom zeittypischen Nachkriegs-Verdrängungsmechanismus (vernichtet haben „die anderen“, die Nationalsozialisten, nicht die Deutschen), irritiert das kühle Nützlichkeitsargument. Die Schöneberger Juden wurde vertrieben oder vernichtet, ihre Synagoge, die Pogromnacht und Krieg nahezu unbeschadet überstand, kann also weg. Heute dient die Fläche als Spielplatz für die angrenzende Grundschule, was zweifellos schön für die Kinder ist, nur: Alternativen wären natürlich möglich gewesen. Man hätte die Synagoge als Gedenkort behalten oder sie pragmatisch in den Schulbetrieb integrieren können, bis sich wieder eine jüdische Gemeinde gründe und die Synagoge nutze.
Die funktionalistische Kälte, mit der nach 1945 ausgerechnet jüdische Einrichtungen zerstört wurden, schmerzt besonders. Die Kälte zieht sich aber durch den gesamten Neuaufbau der zerstörten Städte, die fast immer nach dem gleichen Muster erfolgte: Dort, wo alles weggebombt war, wurden, neue, sachliche Gebäude hochgezogen. Die Stadtplaner rissen auch intakte Viertel aus der Gründerzeit und sogar früheren Epochen ab, um Platz zu schaffen für die berüchtigte „Flächensanierung“ – oder einfach, weil sie scheinbar nutzlos geworden waren.
Die Zerstörung der Städte hörte am 8. Mai 1945 nicht auf, sie ging weiter. Besonders schlimm traf es Städte, die so stark zerbombt waren, dass nur noch wenig nachgeholfen werden musste: die Ruhrgebietsstädte Essen, Dortmund und Hamm natürlich, Bielefeld, Hannover, Darmstadt, Kiel, Ulm; mit Abstand folgen Hamburg und Berlin, die wegen ihrer Größe vor und nach 1945 nicht komplett zerstört werden konnten. Und in wohl jeder deutschen Kleinstadt gab es mal ein Kloster, einen Barock- oder Renaissancebau, der für ein Hoch-, Kauf- oder Parkhaus weichen musste.
Breite, autobahnähnliche Straßen wurden in die Stadtlandschaft geschlagen, um die einzelnen Stadtteile miteinander zu verbinden. Dahinter stand die Ideologie der autogerechten Stadt und der sogenannten Funktionstrennung: Wohnen und Arbeiten sollten säuberlich voneinander separiert, der Idee der gemischten Viertel mit Gewerbe, Geschäften und Wohnungen der Garaus gemacht werden.
Wohl jeder, der in der Nachkriegszeit und in der Stadt aufwuchs, kann sich daran erinnern, wie er mit der Mutter an der Hand unter Lebensgefahr und im Laufschritt sechsspurige Straßen überwand (die Grünphasen waren immer viel zu kurz) oder in dunkle Unterführungen hinabsteigen musste, während der männliche Ernährer mit dem Auto die Schneisen bequem für den Weg zur Arbeit nutzen konnte. Der einzelne Mensch ohne den Schutzpanzer Auto wurde in der neuen Stadt klein gemacht.
Eine sozialpsychologische Erklärung der zweiten Zerstörung nach 1945 lautet: Da hat sich verdrängte Schuld Bahn gebrochen, die sich in Selbstverstümmelung äußerte. Das, was die Bomber der Alliierten nicht geschafft haben, holen wir eben selbst nach. Konkreter und realistischer ist ein anderer Erklärungsansatz. Es war der Zeitgeist, kombiniert mit Gelegenheit und dem dafür ideologisch geschulten Personal. Nach 1945 zogen zwei Gruppen in die Bauabteilungen der Städte ein: zum einen die NS-Architekten, die direkt oder mittelbar für Hitlers Chef-Architekten Albert Speer gearbeitet hatten. Speer, der wegen seiner zweiten Funktion als Rüstungsminister und KZ-Insassen-Ausbeuter nur durch Glück einem Todesurteil beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess entkam, hatte bereits 1943 mit seinem Masterplan „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ eine Blaupause für den Wiederaufbau gesetzt.
Rudolf Hillebrecht zum Beispiel, der für den dortigen Gauleiter an den monumentalen Plänen für die „Führerstadt Hamburg“ mitarbeitete, setzte nach dem Krieg als Stadtplaner von Hannover die Zerstörung der alten Stadt fort. In Westberlin konnte Hans Stephan, der im Stab Speers arbeitete, seine Karriere als Senatsbaudirektor praktisch nahtlos fortsetzen. Es waren aber nicht nur Altnazis: Daneben wirkte auch eine – kleinere – Gruppe von politisch unbelasteten Architekten mit, die noch von der Weimarer Republik geprägt waren.
Ihre Ziele – eine neue Stadt aus einem Guss zu bauen – ähnelten sich, nur die Motive waren unterschiedlich. Die Altnazis sahen die Gelegenheit, ihr Werk nach 1945 zu vollenden, die Unbelasteten wollten alte Zöpfe abschneiden. Alles Alte galt ihnen als verkommen.
Beide Gruppen waren sich so unähnlich nicht, waren sie doch beide Kinder des Modernismus und hatten mit den Architekten Walter Gropius oder Mies van der Rohe oft die gleichen Lehrmeister. Sie einte der Hass auf die bürgerliche Stadt mit vitalen, dicht bebauten Innenstädten, den Villenvorten und den Arbeitervierteln mit ihren Hinterhöfen.
Kommunale Werbefilme der Nachkriegszeit – die Städte mussten den Alteigentümern für den Umbau ja die Grundstücke abkaufen – zeichneten im Stil der Nazi-Propaganda die Innenstädte als dunkle, asoziale Dreckslöcher. Orte, an denen nicht nur Krankheiten, sondern auch politische Extremismen grassieren.
In den sechziger Jahren wurde zum Beispiel das Berliner Brunnenviertel, ein etwas heruntergekommenes, im Krieg aber intakt gebliebenes Arbeiter-Mietshausquartier im Berliner Wedding, dem Erdboden großenteils gleichgemacht und durch seelenlose Wohnsilos ersetzt – gebilligt vom SPD-Säulenheiligen Willy Brandt, der damals Regierender Bürgermeister war. Die Arbeiter, so hieß es, sollte es einmal besser haben. Für die Unsummen an Geld, die für den Kahlschlag samt Neuaufbau ausgegeben wurde, hätte man jedoch die alten Mietshäuser prächtig sanieren und die toilettenlosen Arbeiterwohnungen (die gab es „auf halber Treppe“) gleich mehrfach mit schönen Bädern ausstatten können.
Die neuen, nüchternen Siedlungen boten zwar Zentralheizung, leisteten aber Anonymität und Entfremdung Vorschub. Sie sind im Außenbereich praktisch tote Viertel, wo nur die Funktion „Wohnen“, und das in engen Räumen, möglich ist. Hier gibt es keine Geschäfte, keine Kneipen, keine Cafés. So schuf man auf dem Reißbrett soziale Brennpunktviertel, wo man doch angeblich soziale Probleme beheben wollte.
Seltsam mutet an, dass damals der Brandschutz als Argument – oder Vorwand – für den Stadtumbau herhalten musste. In den Bombennächten hatten die dichten Innenstädte mit ihrem vielen verbauten Holz wie Brandbeschleuniger gewirkt. Das wollte man durch breite Autoschneisen und viel Leerfläche zwischen den Wohn- und Büroriegeln künftig verhindern. Der Krieg war so stark in der nationalen Seele verankert, dass man für einen neuen schon mal vorsorgte.
Ambivalent ist die Rolle der Fußgängerzone, die nicht zufällig eine deutsche Nachkriegserfindung ist. Einerseits ist sie autofrei – andererseits sorgt sie dafür, dass der Verkehr unbelästigt von Fußgängern umso ungehinderter drum herum fließen kann. In der „City“, wie es früher etwas penetrant hieß, wird ganz im Sinne der Funktionstrennung nicht gewohnt oder ausgegangen, sondern eingekauft und gearbeitet.
Und so sehen Fußgängerzonen nach Ladenschluss denn auch aus, nämlich ziemlich trostlos. Wenn deutsche Touristen heute in Neapel, Lucca oder Lissabon beglückt ihre Airbnb-Wohnungen beziehen und ganz angetan sind vom abendlichen Treiben unten auf der Straße, finden sie etwas, was sie zu Hause nicht haben.
1981 schrieb der SPD-Intellektuelle Dieter Lattmann das heute völlig zu Unrecht vergessene Buch „Die lieblose Republik“, eine Abrechnung mit der Regierungszeit des kalten, schneidigen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Das Buch lässt sich aber auch als generelle Abrechnung mit der Effizienz-Ideologie, mit dem Macher- und Optimierungswahn der sechziger und siebziger Jahre lesen, der sich eben auch im Städtebau ausdrückte.
Lieblos sind bis heute die meisten deutschen Städte, auch wenn gut gemeinte Reparaturmaßnahmen seit mittlerweile einigen Jahrzehnten andauern. Straßen werden verengt, Lücken durch Nachverdichtung geschlossen, die schlimmsten Bausünden der Nachkriegszeit abgerissen. Aber die Zerstörungswut der Vergangenheit lässt sich nicht einfach wettmachen. Man braucht im Grunde keine Mahnmale zum Zweiten Weltkrieg, die Städte selbst sind es.
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