: Wer zuletzt grinst …
In Großbritannien will Nigel Farages „Reform UK“ am Donnerstag erstmals der regierenden Labour-Partei einen Wahlkreis abluchsen. Die Rechten setzen auf Ablehnung von Migration. Aber überzeugen sie auch?

Aus Runcorn Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
In der Wahlkampfzentrale von Reform UK im Einkaufszentrum von Runcorn, einem Bau, der innen wie außen wie in den 1970er Jahren eingefroren erscheint, herrscht Hochbetrieb zwischen Billigsupermärkten und Secondhandläden. Es wird eifrig telefoniert und an Laptops gearbeitet, auf Tischen sind Wahlmaterialien gestapelt. Im türkisfarbenen Ladenraum unterhalten sich Parteimitglieder mit neugierigen Menschen, die mit ihren Einkaufstaschen hereinkommen. Die rechtspopulistische Partei hat sich unter ihren neuen Geschäftsführer Zia Yusuf, Sohn srilankischer Einwanderer und Techmillionär, neu aufgestellt: es gibt ein gut besetztes Pressebüro, Wahlstrategen und professionellen Wahlkampf.
Der Wahlkreis Runcorn and Helsby in Cheshire unweit von Liverpool gilt als einer der sichersten Labour-Wahlkreise Großbritanniens. Er erstreckt sich von ländlichen Gegenden bis zur großen Ölraffinerie am Ufer des Flusses Mersey. Am Donnerstag findet hier eine Nachwahl zum britischen Unterhaus statt – und Reform UK könnte gewinnen. Die Umfragen legen ein Kopf-an-Kopf-Rennen nahe, in der Toilette des Einkaufszentrums von Runcorn haben die Pissoirs bereits Schutzmatten in der Reform-Farbe Türkis.
Dass es überhaupt zur Nachwahl kommt, liegt am bisherigen Labour-Abgeordneten Mike Amesbury. Der erst im Juli 2024 mit 53 Prozent der Stimmen wiedergewählte Politiker musste im März zurücktreten, nachdem er zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, weil er in betrunkenem Zustand an einem Samstagmorgen einen Mann zu Boden geprügelt und ihn angebrüllt hatte: „Du wirst deinem Abgeordneten nie wieder drohen, verstanden?“ Das war das Ende seiner Karriere.
Labours Schrecken ist nun die ehemalige Laienrichterin Sarah Pochin. Bei den Wahlen 2017 kandidierte sie für die Konservativen im Labour-Wahlkreis Bolton South East bei Manchester und wurde Zweite. Inzwischen ist sie zur rechten Konkurrenz Reform UK gewechselt.
Sollte Pochin für Reform UK Runcorn and Helsby holen, wäre es ein Schock für die britische Politik. Kein Jahr ist Labours Triumph bei den Parlamentswahlen vom Juli 2024 her. Aber unpopuläre Sparmaßnahmen haben die Wählerbasis entfremdet, sein uninspiriertes hölzernes Image ist Premierminister Keir Starmer nicht losgeworden, seine Sympathiewerte sind im Keller. Die Unzufriedenen wenden sich nicht den Konservativen zu, die Großbritannien vorher regierten. Sie gehen gleich zur Partei von Nigel Farage. In manchen landesweiten Umfragen liegt Reform UK inzwischen auf dem ersten Platz, ein Sieg in Runcorn and Helsby wäre die Bestätigung.
Reform UK steckt alles in diese Nachwahl. Zahlreiche „Informationszeitungen“, die sich Runcorn and Helsby Voice oder Runcorn and Widnes Weekly News nennen, verbreiten Parteipropaganda: In den vergangenen zehn Jahren hätten sich 7,2 Millionen Nicht-Briten bei Großbritanniens Hausarztpraxen angemeldet, steht da. Auf Fotos grinst Parteichef Nigel Farage oder läuft mit Sonnenbrille durch die Gegend. Sein Name zieht am meisten, seine Ambition ist wenig bescheiden. Der 61-jährige Farage will der nächste britische Premierminister werden. Und noch nie standen seine Chancen so gut.
Zum spontanen Fototermin mit der taz im Einkaufszentrum tritt Reform-Kandidatin Pochin selbstsicher und professionell auf: fester Händedruck, Blickkontakt, leichtes Lächeln, Posieren vor dem türkisfarbenem Parteiemblem. Einst hieß sie genauso professionell freundlich als Ehrenbürgermeisterin Flüchtlinge in der Region willkommen. Heute ist ihr Thema, wie das ihrer Partei, der Kampf gegen illegale Migration. Auf einem ihrer Flyer steht das Versprechen des letzten konservativen Premierministers Rishi Sunak, er werde „die Boote stoppen“.
Vor Ort geht es um die Beherbergung von 750 Asylsuchenden in einem Hotelkomplex in der Region. 2020 hatten Rechtsextreme vor dem Hotel protestiert und waren provozierend in das Gebäude eingedrungen. Bis die Polizei eintraft, stellten und filmten sie untergebrachte Personen. Reform-Chef Nigel Farage verspricht nun, als Premierminister werde er alle Illegalen außer Landes bringen. In diesem Wahlkampf fordert Reform UK auch eine Abkehr von Klimazielen und eine Wiedereinführung der von der Labour-Regierung abgeschafften Heizkostenbeihilfe für Rentner:innen.
Als erfahrene Kommunalpolitikerin hat Pochin auch lokale Wahlkampfversprechen: „faire“ Mautgebühren für Einheimische für die Mersey-Brücke nach Liverpool, ein neues modernes Sportzentrum, ein Kino. Zitieren lässt sie sich allerdings nicht, auf Nachfragen gibt ihre Pressestelle keine Antwort.
Dem ehemaligen Polizisten Andrew Perry bietet Reform UK die Gelegenheit für eine Protestwahl, damit die Konservativen wieder auf ihre Wähler:innen hören. Von Reform UK selber hält er eigentlich weniger: „Ich glaube, dass Reform UK erst noch ihren Markenwert beweisen müssen“, räumt er ein. Im Dorf Ince will der in der angrenzenden Ölraffinerie arbeitende Lee Barlow, 60, auch Reform UK wählen. „Ich weiß, eigentlich sollten wir Arbeiter Labour wählen, aber Labour ist nicht mehr das, was die Partei mal war“, findet er.
Dann gesteht Barlow, dass er sich Sorgen macht über die angeblich aus dem Nichts entstandene muslimische Gemeinschaft in seiner Geburtsstadt Ellesmere Port hinter der Ölraffinerie. „Wir sind kulturell nicht vereinbar und ich verstehe nicht, was die da wollen, denn Arbeit gibt es dort keine.“ Bei der letzten Volkszählung zählte die Hafenstadt gerade mal 671 Personen muslimischen Glaubens, ein Prozent der Bevölkerung. Dennoch spricht nicht nur Barlow von türkischen Friseursalons, über die angeblich Geldwäsche und Drogenhandel laufe.
Auch der Farmer Graham Hillyer, 73, auf seinem Hof auf einem Hügel über der Stadt Helsby, will Reform UK wählen. Während er seine Hühner füttert, im Hintergrund laufen Schafe und Kühe über die Felder, schimpft er über Labours Abschaffung der Erbsteuerbefreiung für Kleinbauern. Auch die Konservativen mag er nicht mehr, diesmal geht seine Stimme an Farages Partei. „Er spricht gut und hat seine Arbeit mit Brexit gut gemacht.“
Doch andere geben sich weniger beeindruckt. Die 82-jährige Schneiderin Jane Esposito hat vor dem Vorgarten ihres Reihenhauses in Helsby ein Schild für die Grünen angebracht. Damit ist sie eine der ganz wenigen im gesamten Wahlkreis, die ihr Zuhause mit politischer Couleur markiert haben. Dabei wählt Jane gar nicht grün, sie hat schon per Briefwahl für Labour gestimmt. „Ich halte Reform UK für rassistisch und glaube, dass sie das staatliche Gesundheitssystem privatisieren würden. Obendrauf kommt deren Ansicht, dass wir keine Klimaneutralität brauchen“, erklärt sie.
Die 30-jährige Serviceangestellte Lorna McAvoy will aus dem gleichen Grund Labour wählen. „Labour vermittelt mir derzeit kein Gefühl, dass sie noch für die Arbeiterklasse sind, reiche Menschen besteuern oder öffentliche Einrichtungen schaffen, aber es geht prinzipiell darum, Reform UK hier nicht siegen zu lassen.“
Lee Barlow, Reform-Wähler, über Muslime in der Ölraffineriestadt Ellesmere Port
In Daresbury, dem Geburtsort des „Alice im Wunderland“-Autors Lewis Carroll, erzählt Andy Cairns, 62, dass er eigentlich die Liberaldemokraten befürwortet, aber taktisch Labour wählen werde, gegen Reform UK. Der Projektmanager im Gesundheitswesen sagt, dass Farage große Sprüche mache, hinter denen nichts stecke. Von seinen Warnungen vor Überfremdung hält er nichts: „Ich gehe am Sonntag in die Kirche, und da kommen auch Flüchtlinge aus dem Hotel, von dem hier alle sprechen. Es sind Christen aus dem Iran, Irak und Syrien – alles rechtmäßige Flüchtlinge.“
Aber selbst Labour-Kandidatin Karen Shore, ehemalige Lehrerin und bisherige stellvertretende Leiterin des Kommunalrates in Cheshire West, spricht sich im Wahlkampf gegen die Unterbringung der Asylbewerber:innen in dem Hotel aus. Der Grund: Sie können sich dort nicht selbst versorgen, es gibt keine Kochstellen. Das Innenministerium hat nun rechtzeitig vor den Wahlen angekündigt, die Unterbringung von Flüchtlingen dort zu beenden, womöglich um dem Thema den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Im Labour-Wahlkampfbüro in einem gemieteten Bürokomplex in einem Industriegebiet am Stadtrand, wo emsig Freiwillige zwischen Stapeln von Wahlkampfmaterialien ein und aus gehen, erscheint Shore mit warmer Ausstrahlung. Dies sei eine Wahl zwischen ihr, die wirklich hart für die Gegend arbeite, und dem Chaos von Nigel Farage, fasst sie die Lage zusammen. Wie ihre Reform-Konkurrentin lässt sich allerdings auch die Labour-Kandidatin nicht direkt zitieren. In ihrem Namen übermittelt ihr Pressebüro eine Erklärung: „Echte Veränderungen kommen nur von mir, wie mehr Gesundheitstermine, ansprechbare Wachtmeister, wahre Regenerierung unserer Stadtzentren.“
Wird das genügen, um gegen die Partei des ewig grinsenden Nigel Farage zu bestehen? In der All Saints Church in Daresbury, dort wo Andy Cairns zur Sonntagsandacht geht, erinnert eine Glasmalerei aus dem Jahr 1935 an den berühmten Kinderbuchautor Lewis Carroll: Neben der schreienden Herzkönigin, dem Hutmacher, der Raupe Absolem und dem weißen Kaninchen sieht man die hinter allem steckende dreist grinsende Cheshire Cat – die Grinsekatze, deren Grinsen bleibt, auch wenn die Katze verschwunden ist.
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