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Das leere Land

Eine Reise durch die dünn besiedelte spanische Landschaft Soria, wo man kampfbereit und in Erinnerung an sozialistische Dichter der Hauptstadt Madrid die Stirn bietet

Ein von Stein und Wetter gezeichnetes Land: in der Comarca Tierras Altas der Provinz Soria Foto: Navia/Vu/laif

Von Ruthard Stäblein

Hundertdrei Kilometer entfernt von Madrid auf der Nord-Ost-Autobahn liegt die gleichnamige Raststätte „103“. Lkw-Fahrer stehen an der Bar und kauen an Bocadillos mit Botifarra, der kastilisch-fetten Bratwurst. Oder mit Morcilla, einer mit Reis gebratenen Blutwurst. So etwas soll es geben. Eine Autobahngaststätte, in der das Weißbrot knusprig ist und gegrillte Tintenfischringe schmecken.

Von der Decke hängen die dicken Schinken herab. Wir sind im normalen Spanien angelangt, auf dem Weg in die unbekannte Provinz von Soria, in ein „leeres“ Land. Auf tausend Meter hoch, auf die Ebene der Meseta durch Altkastilien. Felder in Umbra und Mattgrün. Welkende Sonnenblumen, Steineichenwälder, vereinzelte Stinkwacholder mit buschigen Köpfen. Steinerne Hügel ketten sich aneinander. Die Wolken hängen tief. Der Blick verliert sich am Horizont. Weit und breit kein Mensch.

Die Region Soria ist in ganz Spanien am wenigsten besiedelt. 8,6 Einwohner auf einen Quadratkilometer. (In Madrid sind es 5.000 pro Quadratkilometer.) Von der Zentralregierung in Madrid fühlt sich die Bevölkerung nicht wahrgenommen. Ins Abseits gestellt. Industrie gibt es kaum; von der Landwirtschaft können nur wenige leben. Es fehlt an Infrastruktur. Dagegen bildet sich seit 2001 eine Protestbewegung, wie Anna Maria Valen, die für die Regionalregierung arbeitet, erklärt. Eine untersetzte Mitfünfzigerin mit rötlich-braunem Haar, das sie zur Seite kämmt, und langem Pferdeschwanz. Sie trägt einen Anorak, denn es nieselt im kalten Soria.

Der Name der Bewegung ist ihr Programm: Soria ¡YA! Ja zu Soria! Gewerkschafter der sozialistischen UGT, der kommunistischen CCOO, Unternehmer, Nachbarschaftsvereine haben sich zusammengeschlossen, um „gegen das Vergessen durch die Institutionen“ zu kämpfen. 2019 hat sich Soria ¡YA! mit ¡Teruel Existe! zusammengeschlossen zur Partei España vacía – „Das leere Spanien“. Die Nachbarprovinz Teruel ist ähnlich entvölkert wie Soria. Ihr Schlachtruf „¡Teruel Existe!“ will irgendwie den Gegenbeweis zum deutschen Kalauer „Bielefeld gibt es nicht“ antreten.

Spanien ist zweigeteilt. Auf der Hälfte der Landesfläche leben 15 Prozent der Bevölkerung. Zieht man die Provinzhauptstädte ab, sind es nur 10 Prozent. Die Städter verachten und verspotten die „Bauerntölpel“. Schon Cervantes schuf die Figur der „Maritornes“, der hässlichen Provinzlerin. Seitdem hat die Arroganz der Städter einen Namen, herrscht das „Maritornes-Syndrom“. Doch España vacía steht al pie de la cañón, kampfbereit, da. Man blockiert den Autoverkehr, um für eine Autobahn durch die Provinz zu demonstrieren. Groß steht es auf Plakaten am Eingang von Dörfern „Autovia ya“. Man pfeift, wenn der Fußballclub von Soria gegen Real Madrid spielt und fordert die Madridistas auf, doch einmal mit dem Zug nach Soria zu fahren. Bei den Parlamentswahlen von 2022 erhielt España vacía drei Sitze in der Nationalversammlung. Geholfen hat es bisher kaum.

In ihrem Trotz berufen sich die engagierten Sorianer auf ihren Dichter Antonio Machado, der schrieb: „Macht Politik, wenn ihr sie nicht macht, machen sie andere für euch und dann wahrscheinlich gegen euch.“

Anna-Maria zeigt stolz die Schule, in der Machado Französisch unterrichtete. Enge Holzbänke in einem ehemaligen Jesuitenkolleg mit Kreuzgang. Aber Machados Schüler mussten nicht zu Kreuze kriechen. Sein Gott war der Mitmensch. Er wurde in einer Freien Schule laizistisch ausgebildet. Machado wurde später Anhänger der Spanischen Republik und musste 1939 vor den siegenden Truppen Francos mit Tausenden anderen über die Pyrenäen fliehen. Er starb kurz darauf in Collioure – den gleichen Weg, nur in entgegengesetzter Richtung, nahm Walter Benjamin ein Jahr später, ebenfalls vergeblich.

Als Machado von 1907 bis 1912 in Soria lebte, war er socio, Mitglied des Casinos, das 1848 gegründet wurde und noch heute besteht. Ein Club in der Straße Collado, Nr. 23, wie aus der Zeit gefallen. Mit Ledersesseln und alten Lüstern. Ein Treffpunkt für Intellektuelle wie für einfache Leute, für Gesprächsrunden, „tertulias“, und Volkstanz. Im Círculo Amistad Numancia, im Freundschaftsklub Numancia, stellt man sich an die Bar und trinkt ein Bier für 1,5  Euro oder ein Glas Wermut für 3 Euro oder isst „Pinchos“, Häppchen, für 1,70 Euro. Und kommt ins Gespräch. Eingerahmt an der Wand hängen Gedichte von Machado.

Machado, der Dichter, der aus Andalusien kam und in Soria seine große, früh verstorbene Liebe Leonor und seine wahre Heimat Kastilien gefunden hat: „Silbern scheinende Hügel, / graue Höhen, distelblaue Felshänge, / wo der Duero um Soria / seine Bögen zieht.“ – „Siehst du nicht, Leonor, die Pappeln am Fluss?“

Antonio Machado gehörte zusammen mit Miguel de Una­muno zur Autorengeneration der „98er“. Benannt nach dem Jahr 1898, als Spanien seine letzte Kolonie Kuba verlor. Diesen Rückzug verstanden die Schriftsteller als Ansporn, sich auf die eigene Stärke zu besinnen. Unter dem Motto von „intra-historia“ wollte man die Wurzeln der eigenen, „bisher verdeckten“ Geschichte im Inneren des Landes, beim „unbekannten Volk“, suchen. Ein Gedichtband von Machado, „Campos de Castilla“, „Felder Kastiliens“, setzte das Signal und wies auf das karge Leben der einfachen Leute hin: „Die Erde von Soria ist dürr und kalt / das Feld träumt / Der Wanderer hat Hals und Mund in einen Schal gewickelt, / die Hirten sind in ihre langen Umhänge gehüllt.“

Als wir uns am frühen Morgen auf die Suche nach dieser „intra historia“ machen, ist es fast frostig. Gerade mal 3 Grad Celsius. In den Kordilleren steigt in der Ferne der Nebel auf. Die Sonne steht tief im weiten Tal und wirft lange Schatten. Die Konturen der Lärchen und Pappeln, der Steineichen und Stinkwacholder heben sich scharf im Steingeröll ab. Die eisenhaltige Erde changiert in Rot-Umbra-Ocker-Siena-Tönen. Dunkelbraun welkende Sonnenblumen lassen ihre Köpfe hängen und müssen noch warten, bis sie schwarz werden. Denn erst dann werden sie geerntet, und ihre Kerne zu Öl gepresst. Wieder kein Mensch weit und breit. Nur die Spuren der Bauern: Ackerfurchen und Saatrillen.

Peter Handke reiste dorthin für seinen „Versuch über die Jukebox“

Auf den ehemaligen Gleisen der Eisenbahnstrecke durch die Berge der Region Pinares nach Navaleno führt der Radweg „via Santander – Mediterraneo“. Durch lichte Wälder aus Eichen und Kiefern, auf deren Grund im Moos versteckt im Herbst unendlich viele Pilze wachsen: Milchkappe, Steinpilz, Kaiserling, Edelreizker, Trompetenpfifferling, Kräuterseitling, Rötelritterling, Nelkenschwindling. So lockend-klingende Namen, dass es einem schwindlig wird. Aber „aufgepasst“, warnt uns der Rad- und Pilzguide Victor Alonso, der in Navaleno geboren ist. „Manche sind tödlich.“

Victor zeigt auf den Fliegenpilz, der von Weitem sichtbar grellrot strahlt und weiß punktet. „Viele schmecken auch gar nicht“, ergänzt Victor, bückt sich, fährt mit den Fingern durch das Moos und findet dann jedoch eine Reihe von orangegelben, wertvollen Wulstlingen. Die Pilze – wie auch die Kiefern von Soria, die nur langsam wachsen – sind europaweit gefragt. In Soria gibt es sogar einen Pilz-Welt-Kongress. Sind nicht die Pilze das Sinnbild von Soria, frei nach dem Philosophen Gilles Deleuze: „dezentriert“, in abgelegenen Wäldern, nur für Kenner erkenn- und genießbar, wuchern diese „Rhizome“, unterirdisch miteinander zu einem Wurzelgeflecht verbunden, zusammen.

Endlich taucht auf einem Hügel das einsame Kirchlein auf, das wir suchen: San Baudelio de Berlanga. Für Mönche und Einsiedler im 11. Jahrhundert erbaut, im Grenzgebiet zwischen christlicher und muslimischer Zivilisation. Von außen schlichtes Mauerwerk, flaches Ziegeldach. Kein Fenster. Nur in der Apsis eine Öffnung mit Alabaster. Eine hohe Pforte in der Form eines Hufeisenbogens lässt dennoch genügend Licht in das Innere. Mozarabische Künstler, also Christen unter arabischer Herrschaft und Prägung, malten die Kapelle mit biblischen Szenen und mit Fabeltieren aus und schmückten sie mit orientalischen Ornamenten.

Oben thronen die Heiligen und die Märtyrer, aber unten ziehen ein Dromedar, ein Bär, zwei Männchen machende Hunde, feuerspeiende Pferde, ein Ibis, Elefanten vorbei. Ein Mönch jagt mit Pfeil und Bogen einen Hirsch. Ein anderer verfolgt auf einem Pferd mit einem Dreizack und von drei Hunden begleitet zwei Hasen. Ein Ritter zeigt stolz seinen Falken. Den Chor untermauert eine Säulenreihe mit Hufeisenbögen, wie in der Mezquita von Cordoba, nur schlicht und so niedrig, dass man kaum darunter stehen kann. Das Gewölbe der Kirche wird von einer Säule getragen, die sich nach oben hin zur Palme entfaltet. Symbol für das Streben nach dem Höheren und Geistigen. Denn oben hängen die Früchte, die süßen Datteln. Aber die Basis bildet das Bestiarium der Wüste.

Orient und Okzident, hier sind sie vereint. Am meisten beeindrucken zwei Stiere, die sich mit ihren spitzen Hörnern bekämpfen. Ihre Augen sind übergroß und starr. Sie wirken, als hätten sie eine Brille auf. Intellektuell staunende Kampfstiere. Es sind auch die einzigen Fresken, die noch original in San Baudelio erhalten sind. Die anderen wurden in den 1920er abgetragen und befinden sich jetzt in Museen von Cincinatti, Boston, New York, im Madrider Prado. Aber im Restputz der Einsiedelei haben sich die Farben und Konturen der entfernten Gebilde aus dem 11. Jahrhundert abgedrückt. Und nur in diesem Abdruck, in der Abwesenheit, als Spur, ist die Aura des Originals enthalten. In der fruchtbaren Konfrontation von Morgen- und Abendland entstand damals für eine kurze Zeit in Kastilien eine Kultur, die heute utopisch erscheint.

Das einzig bewohnte Haus eines Dorfes Foto: Navia/Vu/laif

Die Abwesenheit suchte wahrscheinlich auch Peter Handke, als er 1989, im Jahr, als die Mauer fiel, sich darum nicht kümmerte, dafür sich an Gedichte von Antonio Machado erinnerte und in das entlegene Soria reiste, um seinen „Versuch über die Jukebox“ zu schreiben. Wie einstmals Rainer Maria Rilke suchte auch Peter Handke im Abgelegenen und doch Alltäglichen das Aufscheinen des Poetischen, die Epiphanie. Rilke ahnte in den restlichen Tapeten der Zimmerwände eines abgebrochenen Hauses in Paris die Spuren seiner verschwundenen Bewohner. Handke fand seinen „Örtlichkeitszauber“ in der von Madrid entfernten und unbeachteten Provinz Soria.

Handkes Begeisterung für die Natur wurde oft als Leugnung der Geschichte und als Abschottung vom Sozialen interpretiert. Aber sein Erzählessay über die Jukebox endet in der Begegnung mit dem Fremden und Anderen. Am Schluss seines „Versuchs“ isst sein Erzähler chinesisch, ausgerechnet in Soria. Er beobachtet eine chinesische Familie, ein Mädchen, das chinesische Buchstaben malt. Eine Chiffre für das Unverstandene und Fremde schlechthin.

Das „stärkste Ortsgefühl“ hatte Handkes Erzähler in Soria auf der Brücke über den Duero und in der Bar daneben. Sie hieß „Alegria del ­puente“ – „Die Freude der Brücke“. Die Kneipe gibt es nicht mehr. Aber die Spur davon, die Freude von Soria, ist geblieben.

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