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Zwischen Hornmist und Hollywood

Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner. Wo uns noch heute Ideen der von ihm gegründeten Anthroposophie begegnen, welche Spuren sie in unserem Alltag hinterlässt

Auch den biodynamischen Landbau haben wir Rudolf Steiner zu verdanken: Mit Mist gefüllte Kuhhörner werden im Boden vergraben, um daraus Dünger zu gewinnen Foto: Uwe Anspach/dpa/picture alliance

Von Cordula Rode

Bei dem Begriff Anthroposophie denken viele geradezu reflexartig an Eurythmie und den getanzten Namen. Doch ist die von Steiner gegründete Anthroposophie wirklich nur eine Nische für Menschen mit einem Faible für Esoterik und Übersinnliches? Mitnichten. Längst sind Ideen und Aspekte dieser Philosophie in unserem täglichen Leben angekommen. Demeter-Produkte gibt es in zahlreichen Supermarktketten, Weleda-Kosmetik in der Drogerie, und in einigen Kliniken wird heute die Schulmedizin durch alternative Behandlungsansätze wie rhythmische Massagen oder anthroposophische Arzneimittel ergänzt.

Während sich das Demeter-Gemüse schon seit Längerem einer wachsenden Beliebtheit erfreut, tauchen zugleich immer wieder Berichte über okkulte Rituale und befremdliche Theorien auf. Dabei sind die Demeter-Bauern im Grunde die Vorreiter einer ökologischen Landwirtschaft. Bereits 1924 gegründet, war die Demeter-Bewegung eine der ersten praktischen Umsetzungen von Steiners Ideen – und zugleich eine der Wurzeln dessen, was sich später als ökologische Landwirtschaft durchsetzen sollte. Pflanzen, Tiere und Boden werden dabei als harmonisches Ganzes betrachtet. Auf chemisch-synthetische Pestizide und Kunstdünger wird vollständig verzichtet.

Stattdessen setzen viele der Landwirte auf eine Form des Düngers, die schon häufig als Beleg dafür herangezogen wurde, wie schräg manche der Ideen der Anthroposophie wirken – der Kuhhornmist. Bei dieser eigenwilligen Methode wird ein mit Kuhmist gefülltes Horn über den Winter vergraben, der Inhalt anschließend mit Wasser verrührt und im Frühling übers Feld gespritzt. Die Kuhhörner sollen „kosmische und irdische Kräfte“ sammeln und an die Pflanzen und den Boden weitergeben. Zugegeben – ein aus konventioneller Perspektive gewöhnungsbedürftiger Gedanke. In einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung gibt ein Bauer eine Erklärung für dieses Ritual: „Es ist der Versuch einer Beziehungspflege zwischen dem Boden und mir.“

Auch der renommierte Kosmetikhersteller Weleda setzt bei den verwendeten Pflanzen auf den Hornmist sowie auf bestimmte Mondphasen und Pflanzen-Pflegerituale. Gleichzeitig liefert er aber quasi den Beweis, dass die Kon­su­men­t:in­nen sich von einem esoterisch anmutenden Überbau nicht abschrecken lassen: Auf die „SkinFood“-Creme schwören laut Social-Media-Beiträgen Models, Make-up-Artists und Hollywoodstars wie Julia Roberts und Victoria Beckham.

Komplizierter sind die Bereiche Pädagogik und Medizin, da die Menschen hier unmittelbare Berührung mit den Grundprinzipien der Anthroposophie haben. Längst gehören Waldorfschulen fest zum deutschen Schulsystem. Obwohl es sich um Schulen in freier Trägerschaft handelt, bekommen sie staatliche Gelder, was oft kritisiert wird. Die Waldorf-Pädagogik polarisiert – sehen die einen sie als eine Art Auffangbecken für Schüler:innen, die an der Regelschule nicht klarkommen, ist sie für andere eine Alternative, bei der sie sich mit ihren Werten und Vorstellungen besser aufgehoben fühlen als an den staatlichen Pendants.

Geld mit Gewissen

Ein im Alltag weniger sichtbarer Bereich, in dem anthroposophische Ideen gewirkt haben und bis heute nachwirken, ist die Wirtschaft – insbesondere dort, wo anthroposophische Impulse ein gesellschaftlich verantwortungsvolles ökonomisches Denken mitprägen. In einigen anthroposophisch inspirierten Unternehmen gilt das Ideal des sogenannten verantwortlichen oder zweckgebundenen Eigentums. Das bedeutet: Gewinne werden nicht als Selbstzweck erwirtschaftet, sondern dienen dazu, gesellschaftlichen und ökologischen Wandel mitzugestalten – etwa durch Reinvestition oder Spenden.

Auch in Debatten um eine solidarische, gemeinwohlorientierte Ökonomie tauchen Begriffe auf, die sich auf Steiners Konzept der Sozialen Dreigliederung zurückführen lassen, eine Idee, die die unabhängige Entwicklung von Wirtschaft, Staat und Kultur anstrebt. Ziel ist es, wirtschaftliche Prozesse stärker mit sozialen Bedürfnissen zu verknüpfen – etwa durch faire Preisgestaltung, einen auf Vertrauen basierenden Umgang mit Mitarbeitenden oder die Vorstellung, Eigentum als zeitlich begrenzte Verantwortung zu verstehen.

Auch beim Thema Inklusion gibt es überzeugende Ansätze, sowohl im Bereich Behinderung als auch bei Hochbegabung. Dennoch geraten die Schulen oft, manchmal auch zu Recht, in den Fokus von Kritiker:innen. Ein Punkt ist die Ausbildung von Lehrkräften, die nicht zwingend einen akademischen Hintergrund erfordert und einem – im Vergleich zum üblichen Lehramtsstudium – bewusst eigenständig entwickelten Konzept folgt.

Im Bereich der Medizin ist es ausgerechnet ein eigentlich sehr positiv anmutender Aspekt der Anthroposophie, der Kri­ti­ke­r:in­nen auf den Plan ruft – der ganzheitliche Ansatz, die Einheit von Körper und Geist. Lange, bevor die Schulmedizin diesen Zusammenhang anerkannte, waren die anthroposophischen Mediziner Pioniere auf diesem Gebiet. Steiner entwickelte Thesen über den Ursprung vieler Krankheiten, den er eng mit dem individuellen Wesen des Kranken verband. Leitet man jedoch jede Krankheit von Wesen und Geist des Patienten ab, kann dabei aber auch etwas sehr Kontraproduktives entstehen – eine Art Schuldzuweisung. Genau dies weisen anthroposophische Ärz­t:in­nen wiederum kategorisch zurück. Es gehe allein darum, Krankheiten nicht als etwas rein Äußeres, Zufälliges anzusehen, sondern als etwas zum eigenen Leben Gehörendes, das uns schmerzt, aber auch innerlich wachsen lassen kann.

100 Jahre später – jetzt auch online

Anlässlich des 100. Todesjahres Rudolf Steiners finden zahlreiche Veranstaltungen statt – gleichzeitig nutzte die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland das Jubiläumsjahr als passende Gelegenheit, eine neue Website ins Leben zu rufen:

anthroposophie.de

Die Website wendet sich ebenso an Interessierte, die einen ersten Zugang zur Anthroposophie suchen, wie auch an jene, die schon etwas tiefer im Thema sind: Interessierte wie Kritiker:innen.

Thematisch deckt sie das breite Spektrum von Waldorfpädagogik über biodynamischer Landwirtschaft bis hin zur anthroposophischen Medizin ab – und informiert über anstehende Veranstaltungen.

„Natürlich gibt es auch Dogmatiker“, erklärt Wolfgang Müller. Der Publizist und taz-Autor beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Rudolf Steiner, dessen Ideen und Ansätzen. „Bestimmte schiefe Steiner-Deutungen verstellen gerade den Blick darauf, wie wichtig und sinnvoll viele seiner Anregungen und Sichtweisen auch und gerade in der Gegenwart sind.“ Müller ist der Meinung, dass Steiners Ansätze unser heutiges eingeschränktes Weltbild, das weitgehend auf die materielle Seite der Wirklichkeit fixiert ist, ergänzen und bereichern können. Der Autor nähert sich dem Phänomen Steiner unkonventionell und völlig undogmatisch. Im Vorwort seines Buchs „Das Rätsel Rudolf Steiner“ berichtet er, dass sein erster Kontakt mit Steiners Theorien eher holprig war – die Bedeutsamkeit des Zahnwechsels bei Kindern wollte sich ihm nicht so recht erschließen. Er ließ sich davon aber nicht abschrecken und ist inzwischen ein Steiner-Experte.

Müller hat sich stets einen kritischen Blick bewahrt und ist ganz sicher kein glühender und kritikloser Steiner-Fan. Umso spannender sind seine Auslegungen: „Anthroposophie ist kein festgefügtes Weltbild, sondern ein Entwicklungsimpuls.“ Da brauche es selbstbewusstes und eigenständiges Denken, keine gläubigen Follower:innen. „Inzwischen finde ich seine Gesichtspunkte immer wieder erhellend und fühle mich durch seine Anschauungen bereichert und zu einem neuen Blick auf die Dinge angeregt.“

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