Kriminologe zum Fall Lorenz A.: „People of Colour sind besonders betroffen“
Der Kriminologe Tobias Singelnstein über tödliche Polizeigewalt in Deutschland, Rassismus – und die Schussausbildung von Polizeibeamten.

taz: Herr Singelnstein, nach den tödlichen Polizeischüssen in Oldenburg sind die genauen Umstände noch ungeklärt. Feststeht, Lorenz A. wurde von hinten erschossen. Unterscheidet das diesen Fall Ihrer Meinung nach von anderen Fällen?
Tobias Singelnstein: Dass es mehrere Schüsse sind, ist nicht ungewöhnlich. So wird einfach ausgebildet, dass mehrfach geschossen wird. Dass von hinten geschossen wurde, ist schon erst mal ungewöhnlich. Aber man müsste wissen, wie die genaue Sachlage vor Ort war. Hat er sich auf jemanden anderen zubewegt? Standen die Beamten vielleicht um ihn herum? Wenn man all das noch nicht weiß, kann man den Sachverhalt eigentlich schwer beurteilen.
taz: Ihm wurde unter anderem in den Kopf geschossen. Ist das normal?
Singelnstein: Polizisten sind generell keine Präzisionsschützen. Sie werden schon intensiv ausgebildet. Aber gerade in Situationen, wo sich Personen bewegen, wo viel passiert, kann man von einem normalen Polizeibeamten nicht erwarten, dass er ganz gezielt schießen kann. Sie werden auch nicht so ausgebildet, dass sie gezielt auf Arm oder Bein schießen sollen. Sie sollen auf den Körper schießen.
taz: Diskutiert wird nun auch über rassistische Polizeigewalt. Zu Recht?
Singelnstein: Das ist eine sehr relevante Diskussion. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es Rassismus gibt, die auch ein ganzes Stück weit von Rassismus strukturiert ist und in der es rassistische Einstellungen gibt. Davon ist auch die Polizei nicht frei. Bei der Polizei ist es nur besonders problematisch, weil sie die Befugnis hat, Gewalt anzuwenden und in Grundrechte einzugreifen. Deshalb ist es in besonderem Maße relevant, dass es dort möglichst wenig Rassismus und diskriminierende Praxen gibt.
taz: Die Frage ist: Wäre Lorenz A. tot, wenn er weiß gewesen wäre?
Singelnstein: Inwiefern im konkreten Fall Rassismus eine Rolle gespielt hat, diese Frage muss man sich stellen. Es müssen gar nicht unbedingt bewusste Einstellungen im Sinne von Ideologie gewesen sein. Aber wäre dieser Einsatz genauso abgelaufen, wenn das eine weiße Person gewesen wäre? Beeinflusst es die Gefahrenwahrnehmung und die Gefahreneinschätzung der Beamten und Beamtinnen vor Ort, wenn es eine Person of Color ist?
taz: Wenn man sich die Statistik tödlicher Polizeischüsse anschaut, lässt sich daraus ablesen, ob es bestimmte Personengruppen häufiger trifft?
Singelnstein: Auch da kommt es auf Details an. Aber wenn wir uns die Fälle in den vergangenen Jahren anschauen, dann ist schon sichtbar, dass Personen of Color in besonderer Weise davon betroffen sind.
2024 wurden 22 Menschen von der Polizei erschossen – so viele wie lange nicht mehr. 2025 sind es bereits elf Fälle. Wie lässt sich eine solche Zunahme erklären?
Singelnstein: Sowohl die Polizei als auch die Forschung täten gut daran, all diese Fälle genau zu untersuchen. Wir wissen, es trifft besonders häufig Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Da gibt es dringenden Forschungsbedarf, warum es der Polizei nicht gelingt, in solchen Situationen Dynamik rauszunehmen und das Ganze zu deeskalieren.
Im aktuellen Fall gibt es ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Totschlags gegen den Polizisten, der geschossen hat. Nun soll die benachbarte Polizeiinspektion in Delmenhorst prüfen, ob die Schüsse verhältnismäßig waren. Also Polizei kontrolliert Polizei. Ist das eine sinnvolle Struktur?
Singelnstein: Nein, das ist natürlich problematisch. Das ist auch innerhalb Deutschlands die schlechteste Lösung, dass die benachbarte Polizeidienststelle ermittelt. Andere Bundesländer haben eigenständige, spezialisierte Dienststellen geschaffen, damit es wenigstens ein bisschen mehr Unabhängigkeit gibt. Aber auch da bleibt es unterm Strich so, dass Polizisten gegen Polizisten ermitteln.
taz: Warum ist das so problematisch?
Singelnstein: Es ist menschlich unmittelbar nachvollziehbar, dass man vielleicht ein besonderes Verständnis hat für die Arbeit von Kolleginnen und Kollegen. Das gilt auch für andere Berufszweige. Deshalb tut sich der Staat an der Stelle schwer, seine eigenen Amtsträger zur Verantwortung zu ziehen. Andere Länder wie Großbritannien haben schon lange die Konsequenz daraus gezogen, unabhängige Behörden zu etablieren, die in solchen Fällen dann ermitteln.
taz: Und das sollte Deutschland auch tun?
Singelnstein: Diese Diskussion wird in Deutschland schon länger geführt. Es wäre möglich, genauso wie in anderen Ländern eigenständige Behörden zu haben, die nicht oder nicht nur mit Polizisten und Polizistinnen besetzt sind.
taz: Die Ampelregierung hat einen Bundespolizeibeauftragten eingeführt. Könnte der Bund auch den Ländern vorschreiben, unabhängige Behörden einzuführen?
Singelnstein: Nein, das fällt in die Zuständigkeit der Länder. Aber natürlich hat es Auswirkungen, wenn so etwas auf Bundesebene diskutiert wird. Ohnehin ist es aber so, dass die Polizeibeauftragten in Deutschland bislang nur sehr begrenzte Zuständigkeiten, Ressourcen und Befugnisse haben. Da ist viel Luft nach oben.
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